lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
2011
 
Joachim Wendel
 
literaturaturlabor 26.01.2011
 
Der Profi
 
Heute hat der Supermarkt Geburtstag. Er wird 18, wie ein großes Transparent am Eingang verkündet. Das Transparent hängt schon länger da, und ich dachte eigentlich, dass der Supermarkt ein ganzes Jahr, zumindest aber einen Monat lang Geburtstag feiern will, mit Sonderangeboten und Rabatten und einer Tafel Schokolade für jeden Einkauf über 100 Euro. Heute sehe ich, dass der Supermarkt die Feier zum Jubiläum ernst meint. Gleich hinter der Tür stehen ein Lautsprecher, darauf eine Art Mischpult, darauf ein winziges elektrisches Piano, alles zusammen auf eine Art Sackkarre geschnallt, dahinter ein unbesetzter Stuhl und ein dickes Kabel. Zu hören sind Schlager der übelsten Sorte. "Schnappi, das kleine Krokodil", "An der Nordseeküste" und "Schön war die Zeit". Zunächst glaube ich, dass der DJ der dies Geräte auf der Sackkarre bedient, eine Pause macht und ein paar Titel vom Band spielt - aber das, was ich höre, klingt nicht nach Band. Ich wundere mich, blicke mich um und sehe in einer Ecke einen gelangweilten Mittfünfziger mit Bauchansatz und Glatze stehen, der mit Händen in den Taschen auf seine Fußspitzen schaut, die Kluft des Supermarktes trägt und an seinem Kopf Kabel hängen hat, sogar ein Mikrofon, und ich muss zweimal hingucken, bis ich mir sicher bin - ja, dieser Typ dort singt, live - er ist die Stimme von Schnappi.

Die Musik erinnert mich an dilettantische NDW-Experimente, Minimalelektronik, Sound aus Kinderspielzeuginstrumenten, der nun, nach 25 Jahren wieder modern ist. Auch der Gesang klingt so, die einzelnen Töne und Silben sind nicht ausgelassen stimmhaft, sondern etwas kraftlos pointiert, so wie Schlager der 60er Jahre häufig den Gesang über die Töne hüpfen ließen, um dem Tanz ergeben zu bleiben. Hier im Supermarkt tanzt niemand, und die sparsame Art der klanglichen Ausgestaltung des Textes hat vermutlich ganz praktische Gründe, denn diese Art zu singen belastet die Stimme weniger, und wenn der Mann 10 Stunden singen muss, dann kann ich verstehen, wie der Sound den Zwängen folgt, die der Leiter des Supermarktes im Vertrag mit dem Sänger diktiert.

Ich beginne mit meinem Einkauf: Bananen, Joghurt, Würstchen, Körnerbrötchen - zu viel für zwei Hände. Ich lege die Bananen, Joghurt und Würstchen beiseite, um die Körnerbrötchen aus den Fächern im Brotregal in die Tüte zu bekommen, nehme die anderen Sachen wieder auf, halte alles so gut es geht beisammen, greife noch nach dem Traubensaft und stelle mich an der Kasse an. Der Schlagersänger ist noch immer da, singt, raucht, die eine Hand in der Tasche.

Ganz ähnlich stelle ich mir die Arbeit von Jazzmusikern vor, die als Rhythmusgruppe in heruntergekommenen Jazzclubs arbeiteten. Die Rhythmusgruppe, Schlagzeug, Bass, manchmal Gitarre, hing die ganze Nacht an den Instrumenten, und nur die Front der Combo wechselte, so dass zur besten Zeit des Abends die lokalen Stars kommen konnten und zu den anderen Zeiten unbekanntere, tingelnde Musiker an der Reihe waren. Die Rhythmusgruppe spielte und spielte, und sicher haben sich Techniken entwickelt, die Musik im Fluss zu halten, akzentuiert und gelassen, um dem Getränkekonsum eine tragende klangliche Grundlage zu schaffen, den Plänen, die der Trinkende schmiedet, eine Aussicht auf schwungvolle Umsetzung zu geben, und den Flirtenden Mut zu machen, sich aufeinander zuzubewegen. Diese Schmeichelei kam dem Bedürfnis nach kräfteschonendem Spiel entgegen, der Möglichkeit sich abzuwechseln, dem Bass mal für eine Zigarette lang dem Schlagzeugsinn zu überlassen, mit den High Hats den Groove zu stützen ohne zu viel Energie zu verbrauchen. Dazu kommt die Fähigkeit der Könner, verschiedene Rhythmen gleichzeitig zu spielen oder doch zumindest im Sinn zu haben, so dass der Grundschlag, den ein Instrument vorgibt, eine Vorlage für das rhythmisch verschobene Spiel eines anderen Instrumentes ist. Einem ähnlichen Spiel verfallen die Augen des Betrunkenen, die im Rausch beginnen doppelt zu sehen, die Zigarette im Aschenbecher zweimal, so dass ich nicht weiß, nach welcher ich greifen soll. Sollte ich sie noch greifen können, so ist der Aschenbecher ebenfalls zweimal zu sehen und ich asche daneben. Je nach dem, wie es mir gelingt, mich zu konzentrieren und den Blick mit meinem Verstand zu steuern, sehe ich die beiden Aschenbecher näher zusammenrücken. Lässt die Konzentration nach, trennen sie sich, konzentriere ich mich, finden sie wieder zusammen, und wenn auch die Konzentration nicht mehr hilft, kneife ich ein Auge zu, um den Aschenbecher zu treffen. Jazzmusiker, die etwas von der Sache verstehen, beherrschen dieses Spiel nüchtern. Sie können einen Rhythmus spielen und den anderen im Auge behalten, in der einen Hand den Schlag der anderen belauschen, so als gäbe es zwei Hirne, die wie die trunkenen Augen jedes für sich scharf sieht. Ein solcher Profi war der Supermarktsänger.

Hier im Supermarkt bleibt der Gesang im Takt des Playbacksounds, der aus der Anlage auf der Sackkarre kommt. Allerdings kann der Sänger zugleich pointiert singen und, gelangweilt rauchend, in der Ecke stehen, er kann zwischen den Songs sprechen, als würde er vor Freude die Arme hochreißen und sie doch in der Tasche lassen. Vielleicht war er auch mal Jazzmusiker, als Student, hat in Kellern in Ostberlin heimlich Konzerte gegeben, hat sein Studium beendet, eine Frau gefunden, ein Kind bekommen und dann Schlager getextet. Vielleicht war er mal ein Star, hat vor großem Publikum gesungen, Autogrammkarten verteilt und Rosen geschenkt bekommen. Und vielleicht ist einer der Schlager, die er singt, von ihm, und ab und an bleibt eine ältere Dame stehen, sieht in die Ecke, in der sie den Sänger findet, ist sich nicht sicher und schiebt den Einkaufswagen vorbei. Ich könnte noch mal in den Supermarkt hineingehen, an der Kasse einen einfachen Strauss Frühlingsblumen für 1,99 kaufen und sie ihm überreichen, als ernsthafter Bewunderer seiner Kunst.