lauter niemand - bio - film - manifest
 
Till Nikolaus von Heiseler
 
 
lauter niemand lesung 25.Mai 2002
 
Zum gezeigten Film:
Die Geschichte meines Todes
(Interaktives Kino 01)
 
Die Idee besteht darin, narratives *VJ-ing zu machen. Ausgehend von einer Gesprächssituation mit dem Publikum werden Ausschnitte aus einem Film gezeigt, Überleitungen erzählt oder dargestellt. Je nachdem, wie das Publikum reagiert, bekommt der Abend eine andere Wendung. Die Geschichte, die erzählt wird, steht fest. Das Publikum aber bestimmt, welcher Aspekt der Geschichte ans Licht kommt. Das verwendete Material ist authentisch, die Kamera beobachtete ausschließlich Realprozesse. Es ist auf verschiedenen Kassetten so angeordnet, dass sich daraus theoretisch ca. 16. 000 verschiedene Möglichkeiten bestehen.

*VJ / Abkürzung für Videojokey, weibliche Form: V-Jane, Nachbildung des Wortes DJ (Diskjokey) = jemand der Platten präsentiert. Im 20. Jahrhundert entlehnt dem gleichbedeutenden neuenglischen Wort "diskjokey", eine Zusammensetzung aus englisch disk (Scheibe), aus lateinisch diskus (Scheibe) aus griechisch dískos und Jockey "Handlanger, Fahrer"; später auch im Sinne von "Rennreiter" (fachsprachlich). Im 18. Jahrhundert entlehnt aus gleichbedeutend neuenglisch Jockey, eine hypokoristische Form von Jock, der nordenglischen und schottischen Variante des Namens Jack. Zunächst Bezeichnung für jemanden der Hilfsarbeiten erledigt, dann auch speziell für jemanden, der sich um Pferde kümmert, dann übertragen für einen "angeheuerten Reiter", wobei wir beim "angeheuerten Plattenreiter" wieder beim DJ wären = jemand, der sich um die Platten kümmert, dass heißt sie auflegt und präsentiert.

Das Material

Ausgangspunkt des Filmes ist eine Selbstdokumentation. Ich wollte mich umbringen und darüber einen Film machen oder andersherum: ich wollten einen Film darüber machen, wie ich mich umbringe. Dies schien mir der mir entsprechende Freitod: eitel zweifellos, aber eben auch clownesk und selbstironisch.

Die wichtigste Entscheidung war vielleicht die: ich wollte außer der Kamera noch einen anderen Zeugen haben. Das ist ein kleistisches Motiv. Der Übergang, den die Geburt darstellt, wird ja auch nicht allein bewerkstelligt. Ich war von dem Satz besessen: sich selbst in den Tod hinein gebären. Jemand sollte mein Sterben mit ansehen. Dies versprach eine Art von Dramatik, die mir gefiel, weil sie auf unverkrampfte Art billig war. Über zwei Stunden stand ich - es war der 13. September 2001 - an einem Imbiss an der Kurfürstenstraße auf dem Straßenstrich, halb angstvoll überzeugt hier die "Richtige" zu finden, halb in der Furcht, doch niemanden zu treffen. Diese zwei Stunden erschienen mir wie eine Ewigkeit, die ich nur ertrug, weil ich mir sagte, dass ich Leben und Film - sollte ich niemanden finden - allein beenden müsste. Die erste Frage, die ich ihr, Alexandra,(einer Prostituierten, die ich an besagtem Imbiss kennen lernte) stellte, war: Bist du intelligent? Ihre Antwort: Nein, ich bin nicht intelligent, aber wissbegierig. Damit war alles klar... Sie hatte eine Art, als wenn wir uns schon Jahre kennen würden. Als ich sie fragte, ob sie Lust hätte, mit mir zu filmen, wusste ich, dass sie einwilligen würde. Was sie im Kopf hatte, war ein befriedigendes erotisches Erlebnis als "Trostpflästerchen" für den frustrierenden Abend auf dem Straßenstrich. Auf dem Nachhauseweg wurde mir klar, dass der Anschlag des 11. Septembers eine große Inspiration für mich war...

Kurzinformation

Seit etwa einem Jahr existiert eine Gruppe von Underground-Filmern, die nach der NEUEN METHODE Videos herstellt. Die NEUE METHODE ist die Aufforderung an jeden aus der erstickenden Passivität, die medial eingeübt wird, herauszutreten und die Macht der Produktion in die eigene Hand zu nehmen. Dies wird sowohl als künstlerische als auch politische Tat gesehen. Vorbild war u.a. die illegale Performance "Ein sehr kurzes Stück für Bankdirektoren" (Konkursbuch Nr. 35, www.bank-ueberfall.de) mit dem im Okt. 2001 der Kongress der Globalisierungsgegner (www.attac-netzwerk.de) in der TU Berlin als Dauerinstallation eröffnete. Die Hauptidee besteht darin, das Regisseur, Kameramann und Darsteller eine Personalunion eingehen und ohne Drehbuch, Licht und Schauspieler gearbeitet wird. Seit Juni dieses Jahres traf sich das "Kollektiv der Neuen Methodiker" jeweils am 1. Sonntag des Monats an verschiedenen Orten in Leipzig. Ab sofort finden die Treffen in Berlin statt. Das erste (vorläufige) Manifest wurde am 3. Juni 01 formuliert:
 
Die Neue Methode (New Method)

"Ein Manifest ist immer der Versuch, im Gestus des Lehrens zu lernen." (Bonté)

"Dogma ist ästhetizistisch. Die Neue Methode untersucht die Wirklichkeit. Dogma ist der Look der Authentizität. Die Neue Methode heißt, der Wahrheit vor der Wahrscheinlichkeit ein Recht einzuräumen." (Kollektivmitglied)

§ 1) Die Wirklichkeit steht im Zentrum, nicht das Produkt / Zielsetzung
1.1 Die Neue Methode erfühlt die Wirklichkeit, nimmt sie auf, versucht sie zu begreifen.
1.11 Die Neue Methode ("methodisches Filmen") versucht Wirklichkeit, nicht überzeugend nachzustellen. Sie versucht nicht, einen authentischen Look zu kreieren. Das Interesse an der Realität, ist nicht Mittel zum Zweck.
1.2 Das Ziel des methodischen Films ist die Zerstörung bürgerlicher Selbstzufriedenheit.

§ 2) Vorbereitung Die Planung betrifft Inhalt, Aussage und Arbeitsweise.

§ 3) Regie Die Inszenierung besteht darin, einen Realprozess zu planen, in Gang zu setzten bzw. nicht zu stören.

§ 4) Kamera / Selbstreflexion
4.1 Erfühlen, Aufnehmen und Begreifen des Realprozesses ist die Kraft und leitende Idee der Kameraführung.
4.2 Derjenige, der die Kamera führt, weiß nicht, was er aufnehmen wird, er ist äußerlich frei und allein gebunden an den Wunsch, die Wirklichkeit als Erlebnisses zu erkunden. Während des Drehs muss er vergessen, dass er einen Film dreht. Die/der Kamerafrau/mann muss so drehen, als wenn sie/er eine Geschichte, die sie/er für relevant hält, für sich selbst oder für einen Freund dokumentiert.
4.3 Formale Eingriffe sind der Versuch, etwas Relevantes von der Wirklichkeit zu vermitteln, deutlich zu machen oder zu betonen.
4.4 Die Kamera "spielt mit". Es muss immer klar sein, wie es zur Aufnahme kommt. Die Kamera wird im Allgemeinen von den handelnden Figuren geführt. 4.41 Filmische Wirklichkeit wird nicht akzeptiert.
4.42 Werden Aufnahmen nachgestellt, ist dies zu verdeutlichen.

§ 5) Postproduktion / Parteinahme
5.1 Der Schnitt vermittelt die Geschichte als Erlebnis.
5.2 Die NEUE METHODE ist entschiedene Parteinahme für diejenigen, die keine Lobby haben. Dies soll auch in der Montage zum Ausdruck kommen.

§ 6) Jenseits des dokumentarischen Voyeurismus
6.1 Der Macher begibt sich in das, was er dokumentiert, hinein. Er setzt sich psychisch und physisch aus.
6.2 Der methodische Film liebt die Illegalität.
6.21 Illegalität in der Produktionsweise ist Ausdruck für die Missachtung von Gesetzen, die eine Welt schaffen, die der filmische Methodiker ablehnt.

§ 7) Öffentlichkeitsarbeit
7. Kommerz und Eitelkeit sind für die künstlerisch-politische Arbeit vernichtend, deshalb: alle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit erfolgt (wenn überhaupt) anonym.

Das Kollektiv der Neuen Methodiker, am 03. Juni, 2001

Am 1. Juli wurde die Frage diskutiert, inwiefern der Kapitalismus die Filmkunst zerstört habe. Es wurden die Vor- und Nachteile erörtert, die sich aus einer eventuellen kommerziellen Auswertung unserer Videos in Kino und TV ergeben. Das Kollektiv kommt zu keinem Konsens. Einerseits hängt die politische Wirkung unserer Videos von ihrer Verbreitung ab, die im Kapitalismus vor allem als Ware möglich ist, anderseits besteht die Gefahr, dass die NEUE METHODE vom Markt vereinnahmt wird und ihre Produkte seine Dynamik befördert. In diesem Zusammenhang wurde von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen, dass Illegalität von Aktionen eine gewisse Marktresistenz gewährleistet. Kollektiv-Mitglied 1 (KM1), sagte dass das Scheitern am Markt ihm wichtig sei. KM2 warf KM1 vor, dass das Scheitern um des Scheitern willen eitel sei, da ein künstlerisches Produkt nur seine Wirkung entfalten könne, wenn es seine Adressaten finde.

5. August: Wenige KMs, da Sommerloch. Diskussion über das Perspektivische im Film. Der Zusammenhang zwischen perspektivischer Unentschlossenheit und der künstlerischen Unbedeutsamkeit wurde gezogen. Die Unschlüssigkeit der Perspektive (warum steht die Kamera da und nicht dort?) wurde als Grund für die allgemeine minderwertige künstliche Qualität des Kinofilms genannt (etwa mit der des Unterhaltungsromans vergleichbar). Es wurde darauf hingewiesen, dass die NEUE METHODE diese Problem ein für alle mal löst (Kamera spielt mit und ist als solche in die Geschichte eingebunden). 2. September. Im Herbst 2000 hatte China im Zusammenhang mit einer Copyright-Frage militärische Drohungen gegenüber den USA ausgestoßen. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob Atombomben auf L.A. (Hollywood), unter Umständen die Filmkunst befördern würde. Die Frage wurde verneint, dem KM, der die Frage aufgeworfen hatte, wurde Menschenverachtung und Zynismus vorgeworfen ("Auch Hollywood-Produzenten sind Menschen.") Ein zweites Manifest wurde formuliert: Die NEUE METHODE (Das zweite Manifest) Das Publikum, das das Falsche für das Echte nimmt, hat einen Sinn für das Echte und reagiert darauf, wann immer es sich zeigt. Aber nicht auf der Bühne darf man es heute suchen, sondern auf der Straße; und wenn man der Straßenmenge eine Gelegenheit bietet, ihre Menschenwürde zu zeigen, wird sie es tun.(Antonin Artaud) Die NEUE METHODE ist eine künstlerische Disziplin, die Videos unter sehr strengen Bedingungen und Auflagen in kürzester Zeit produziert. Die NEUE METHODE ist eine Kampfsportart, zeremoniell wie japanisches Federzeichnen oder das Shoot-out am Ende eines Westerns. Die NEUE METHODE ist Sport auch im Sinne seiner etymologischen Herleitung aus englisch "disport" (Vergnügen) und damit erlebnisorientiert. Die NEUE METHODE ist Wettbewerb und künstlerischer Wettstreit. Die NEUE METHODE ist oft multirealistisch und hypertektonisch. Die NEUE METHODE ist ein Spiel für Menschen, die etwas zu sagen haben. Die NEUE METHODE ist verwand mit dem Geiste des Zens. Die Neue Methode vermischt Wirklichkeit und Fiktion. Diese Vermischung geschieht auf immer wieder neue Weise.

Kollektiv der Neuen Methodiker