Eine Poetologie (griech. poiesis: Hervorbringen, logos: Wort, Rede, Sinn), also die Rede um das eigene Hervorbringen, einen literarischen Text über den literarischen Text zu verfassen, ist eine Aufgabe, die vor allem Eines abverlangt: die Konzentration auf das, was dem Verfasser als Wesentliches erscheint und darüber hinaus auch Ansprechendes, Mittelbares birgt, das für andere bestenfalls Impulse und Einsichten bereit zu stellen vermag, und somit das eigens und für sich zu diesem Thema Erdachte in etwas Nachvollziehbares überführt. Doch wann ist eigentlich der richtige Zeitpunkt für solch ein Unternehmen, also wann kann man sich sicher fühlen, die Aussichtsplattform gefunden zu haben, von der aus man auf das eigene Schreiben wie auf eine Landschaft hinunter blicken kann. Und wenn man die Landkarte erst beschriftet hat, muss man dann ewig auf den eigenen Pfaden wandeln, oder ist es nicht viel wichtiger, selbst weiterhin im Wandel zu bleiben? Deswegen möchte ich an dieser Stelle lieber nicht zur Kartographin mutieren, sondern stattdessen auf das mimetische Vermögen eingehen, das selbst eine Bewegung darstellt und somit nicht der Gefahr unterliegt statisch zu sein oder Statik zu produzieren.
Bei Platon, dem anhand seiner Mimesiskritik im 10. Buch der Politeia von Nietzsche Kunstfeindlichkeit unterstellt wurde, gilt die Kritik nicht der Kunst als solcher. Was Platon zurückweist, ist ein Mimet, der Kopien der Einzeldinge abbildet und somit auf ihre bloße Erscheinung rekurriert. Diesem Spiegelmimeten fehlt nach Platon ein entscheidender Zug, denn das Ziel des Künstlers darf es nicht sein, im Kunstwerk eine unterschiedslose Kopie der sinnlichen Welt anzufertigen, sondern seine Aufgabe soll sein, einen spezifischen Wesenszug des Abgebildeten im Werk darzustellen.
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dieser Kunstbegriff massiver Kritik unterworfen. Dem antiken Mimesisbegriff stellte man unter materialistischen und konstruktivistischen Konzepten die Vorstellung von literarisch-künstlerischer Abstraktion gegenüber. Schlagwortartig kann man hier Fiktionsskeptizismus und eine Konzentration auf zeichen-ontologische Aspekte von Sprache benennen. Eine radikale Produktionsästhetik, der maschinisierte Mensch waren wichtige inhaltliche Vorstellungen, nicht nur der Mensch produziert den Text, sondern auch der Text produziert den Menschen.
Bei Walter Benjamin hingegen könnte man, so mein Gedanke, nach einem vermittelnden Ansatz zwischen diesen beiden Positionen suchen, wenn er Sprache als die „höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit“ bezeichnet. Unsinnliche Ähnlichkeit zu erschaffen kann nämlich ebenfalls als immanente Kritik an dem Dichter oder Mimeten als Kopisten der Sinnenwelt begriffen werden. Dies macht dann Sinn, wenn man das Gestische als mimetischen Akt in Benjamins Philosophie hinzuzieht. In Gesten und Gebärden ist eine Zeichenhaftigkeit zu finden, die auf Inhalte verweist, denen auf sprachlich vermittelndem Wege nicht begegnet zu werden vermag. In Hinblick auf Kafkas Werk, dem Benjamin viel Aufmerksamkeit gewidmet hat, findet Benjamin einen ganzen Kodex von Gesten, die keineswegs für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche ringen. So heißt es in Benjamins Kafka-Essay: „[...] der Gebärde des Menschen nimmt er die überkommenen Stützen und hat an ihr dann einen Gegenstand zu Überlegungen, die kein Ende nehmen.“ Und im Zusammenhang mit Kafka: “Sie sind nicht Gleichnisse und wollen doch auch nicht für sich genommen sein; sie sind derart beschaffen, daß man sie zitieren, zur Erläuterung erzählen kann. Besitzen wir die Lehre aber, die von Kafkas Gleichnissen begleitet und in den Gesten K.'s und den Gebärden seiner Tiere erläutert wird? Sie ist nicht da; wir können höchstens sagen, daß dies und jenes auf sie anspielt."
Auch der Begriff der Übersetzung bei Walter Benjamin beinhaltet Züge des Mimetischen. Lektüre ist nicht allein auf Schrift begrenzt, denn jede Betrachtung eines Gegenstands oder Sachverhaltes meint einen Lesevorgang, der sich anzuverwandeln und zu formulieren versucht, was ihm am Betrachteten lesbar ist oder was er sich lesbar macht. "Was nie geschrieben wurde, lesen" deutet dabei die Zielrichtung auf das neu zu Entdeckende an. Die Aufgabe des Übersetzers lässt sich herkömmlich aus dem Begriffspaar Treue und Freiheit bestimmen, wobei Treue aufs Wort und die Syntax, Freiheit zunächst auf den Sinn, das Mitteilbare am Original gerichtet ist. Die Freiheit in der sinnhaften Auslegung durch den Rezipienten beschreibt Benjamin wie folgt: "so muß, anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen." Auch Benjamin weist also darauf hin, und hier könnte meines Erachtens ein zum platonischen Denken nicht ganz unähnlicher Gedanke liegen, dass es sich bei der Übersetzung nicht um einen Prozess des Ähnlichmachens oder Angleichens handelt. Es muss ein Mehr hinzutreten, denn Benjamin sagt an anderer Stelle, die Intention des Übersetzers sei eine "abgeleitete, letzte, ideenhafte". Zusammenfassend gesagt geht es also sowohl um eine Wechselbeziehung von Mensch und Text, um den Bezug zum syntaktischen Sprachmaterial, aber ebenso auch um Übersetzung im Sinne eines mimetischen Sich-Anverwandelns, das insbesondere bei Platon auf eine Form des Letzten und Idealen gerichtet ist.
Bezüglich meiner Vorstellung von Dichtung bedeutet dies den Wunsch, keine Lyrik zu erzeugen, die mimetisch im Sinne einer die Sinnenwelt spiegelnden Kopie ist, sondern sich auf etwas dem Dargestellten selbst Wesenhaftes konzentriert. Materialität von Sprache, ihr Zeichencharakter, der nicht über festgeschriebene Inhalte produziert wird, kann auch im Gedicht über sprachliche Gesten transportiert werden. So kann idealerweise eine strenge Geschlossenheit im Sprachlichen und Zeichenhaften mit einem geöffneten Sinnangebot in Spannung treten, dessen Auslegung wiederum für sich in Anspruch nehmen möchte, aus dem unendlichen Angebot darstellbarer Eigenschaften am Objekt vielleicht jene herausgegriffen zu haben, die dessen wesentliche Züge am ehesten begreifen lassen. |