lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
 
Anna Staffel
 
 
literaturlabor 29.01.2006 /aktualisierung 17.11.2012
 
Erdbewegung
 
Lange Gazestreifen hingen über dem Himmel zwischen Decke und Stahlgeländer, als ich die eiserne Treppe mit dem letzten Schritt abstieß. "Label Night auf dem Musikbalkon" lautete die Ankündigung in einer Mail - kurz danach stand ich auf dem großen Balkon im "Zentrum für Kunst und Medientechnologie" mit Aussicht auf alte Industriefilme.
Die Vorhänge flimmerten das Schwarzweiß archaischer Wiedergeburt, alte Zeiten wanderten am Horizont - sie bewegten ihre Dokumentation eine Spur zu schnell.
Der Veranstalter schob einen großen Karton in die Mitte des Balkons und fischte kleine grüne Dreiecke mit drei Beinen heraus, klappte sie auf und stellte sie in spontanen Gruppen zusammen. Rotes Licht tauchte die Anwesenden in ruhende Silhouetten. Ich schnappte mir auch einen grünen Jägerstuhl und balancierte, die Sohlen fest am Boden, um Halt. Andere Besucher versuchten dasselbe und ich fragte mich, wie man mit abgestützten Beinen die Flinte noch ansetzen konnte.
Wasser- und Bierflaschen beugten langsam die Münder. Der Vorhang sprudelte Menschen und Maschinen im Faltenwurf...
Ein junges Mädchen saß plötzlich neben mir. Ich sah sie nicht kommen. Sie saß dicht an meiner Seite, suchte Schutz ohne zu wackeln. Sie sah aus, als suche sie die Wärme Indiens. Sie hatte ein indisches Lächeln, dunkle Haut und das Gebiss einer Königin. Leise fragte sie:
         "Ist es okay?"
         "Klar, ist es okay!"
Ich nickte und verbog meinen Mund in die positive Richtung. Sie hatte etwas Lehmig Schlammiges in ihrem Geruch und vielleicht auch einen Hauch Lehm in ihrem Gesicht. Es schimmerte matt, sie erinnerte mich an meine erste Freundin, die im Gegenteil blond war, aber auch sie hatte eine ländliche Ausstrahlung, eine extreme Erdung, eine anhängliche Bodenständigkeit, aber dieses Mädchen war völlig fremdartig, vielleicht eine indische Schwarzwälderin oder eine malaiische Dresdnerin, ich versuchte sie im Halbdunkel aufzugreifen, lauerte um ihre Silhouette, versuchte Geruch und Gestalt zu vereinen, aber sie sprach mit einer grundehrlichen jungen Stimme:
         "Was ist eigentlich eine Label-Night?"
Und ohne die geringste Neugier auf meine Antwort, wusste sie selbst Bescheid:
         "Ja, es ist vielleicht so was wie ein Club - nur etwas Anderes - aber          hat doch was Besonderes, aber was weiß ich noch nicht, ich muss          noch alles auf mich wirken lassen".
Ich wusste wirklich nicht was ich ihr zur Label-Night sagen sollte und sagte lieber nichts - nickte zu ihren Fragen, die sie selbst beantwortete, und beobachtete den Soundmaster. Rot durchleuchtet bediente er die Labtops mehrerer Soundmaschinen. Tonabnehmer verwandelten harmlose Beckenklänge in dramatische Tiefen. Die "City Center Label Night" erdete Bass-Sound, vibrierte rückkopplungsfrei, fräste scheppernde Metalllosungen, drehte Köpfe zur großen Filmwand, verweilte in Bohrungstiefen und legte Bohrkerne frei. Frauen mit Kopftüchern bündelten Haferstroh. Männer und Frauen ernteten auf Feldern das Späte Brot, aber Brot und Erde verschwanden kollektiv. Im Hintergrund drohte der Bohrturm. Die Erdproben zerbröselten das herrschende Ernteglück. Eisenbahner schmiedeten Gleis um Gleis, Mägde und Bauern verloren ihr Land. "The Train is train...", der Sound rollte Räder, der Zug holte Stahltross um Stahltross, der Boden bebte noch lange ins Nichts.
Zarte Trompeten zuckten. Rabenschwarzes Haar pendelte im vorbeigehen - blieb stehen und schnitt den Film in zwei Hälften.
Ganze Dörfer verschwanden in klaffenden Wunden. Der Braunkohleabbau fraß sich voran, schneller, weiter, perfekter. Der Soundmaster schrieb den Industrie-Sound für das Große Sterben. Und dann floss zärtlich flüssiges Erz auf davor stehende Schatten, dahinter stehende erschienen platt gewälzt, gehämmert. Und dann steppte die Musik zum Happy End.
Das Mädchen bewegte fleischige Lippen:
         "Ich habe so was noch nie gesehen! - Und du?"
         "Ich?"
Und um nicht die tonnenschwere Erde abzuschütteln, in die ich mich schon längst begeben hatte, wagte ich ein kurzes
         "Schon..."
Ich erinnerte mich an die Erdlöcher, die wir Kinder aus der Nachbarschaft auf einem brachliegenden Gelände gruben. Einmal stürzte ein Erdloch ein und wir schaufelten wie besessen Andy wieder frei. Er hatte überlebt und wir lachten darüber, weil wir über alles lachten, aber keiner von uns grub jemals mehr ein Loch.
Ein Klarinettist im zu großen braunen Anzug blies leises hölzernes Wachsen. Die Erde war wieder Krume für Korn.
Strickkappen und Zöpfe sprachen zu laut, eine Wicke tentakelte und drehte Klettertriebe auf. Einige Zuhörer lehnten an Säulen, wippten und wogen ihre schlanken Körper. Sie standen am Scheidepunkt - kurz vor ihrer Hingabe. Ein kleiner Sprung, eine kleine Nuance, kleiner als die Überwindung selbst könnte sie auf die Tanzfläche treiben. Sie würden zwei Schritte hinausgehen, kreisen und Gelenke dehnen, Arme und Hälse schleudern und rhythmischen Sound-Gebinden verfallen.
Das Mädchen faltete sehnsüchtige Augen, lachte schüchtern und forderte zum Tanz:
         "Sollen wir?"
Ich klebte am Boden fest und um sie nicht mit Ablehnung zu verletzen sah ich lächelnd zurück:
         "Sorry - später - vielleicht..."
Sie stand auf, wippte ihre Brüste, schwang den langen roten Rock und spielte sprühend im roten Licht die tanzende Anima zum organischen Wachsen meiner Hose.
Der Soundmaster blies Sturm, die Tänzer entwurzelten. Ich hielt mich fest. Ein Auge starrte auf das Mädchen, das andere, Zeit raffend, als ob die Wicke tentakelte, filterte das Filmlicht. Ich griff in die Brusttasche. Zwei Kondome lagen bereit. Ich spürte ihren runden Rand.
Ein Fischerboot schaukelte in Wasserfluten, der Vorhang wellte wieder riesige Baggerschaufeln, Wohnungen wurden verlassen, Stühle und Schränke verladen.
Ich dachte an ein großes Zeitloch meiner Eltern. Sie hatten die Jahre des Krieges verschwiegen, die Jahre ihrer Flucht aus ihrer Heimat. Ich dachte an die vielen Jahre, in denen ich versuchte dieses Loch auszufüllen. Aber wenn ich meine Mutter danach fragte, tanzten ihre Augen links-rechts, links-rechts und sie blieb stumm, überhörte meine Frage. Sie überhörte überhaupt meine Fragen! Das machte mich wütend, aber nicht mehr so wütend, nachdem ich wusste, dass ich ihr Verhalten auf meine Weise übernommen hatte: Ich trug wie sie das sichtbare Zeichen großer Verschwiegenheit auf meiner Stirn... das zog Frauen an, besonders junge Frauen.
Das schöne Mädchen schälte sich aus dem kochenden Kreis tanzwütiger Gestalten. Sie stand frontal, sie duftete jetzt nach trockenem Lehm - leicht salzig, sie warf auffordernd den Kopf:
         "Hast du jetzt Lust zu tanzen?"
Ein Mann mit Herz-Leuchtdiode blinkte gegenüber und ich zögerte einen Augenblick zu lange, sah dem langen Schattenwurf ihrer Wimpern nach und verstummte. Ihre großen schwarzen Augen schluckten ganze Moorseen. Wütend zog sie eine Schnute:
         "Dann eben nicht!"
Ich sprang auf:
         "Doch! - Ja!"
Aber ich führte sie mit heißer Hand zur Theke und sie ließ nicht nach:
         "Ich dachte wir wollten tanzen!?"
Mit der Bockigkeit einer kleinen Eselin sträubte sie sich gegen den zugewiesenen Platz an der Theke und um Zeit für einen kleinen Drink zu gewinnen, fragte ich die gewöhnlichste aller Fragen:
         "Wie heißt du eigentlich?"
Und um nicht einfach zu wirken, setzte ich gleich nach:
         "Deinen Namen sollte ich schon wissen, wenn ich mit dir tanze!?"
Ich Idiot - das war ihr eindeutig zu arrogant! - und sie zerrieb überflüssig im Sofort-Tanzen-Gezicke den Rest aller tiefgründigen Vermutungen über Gefühle. Ich lies sie ziehen, der Bass überbebte ihren Namen, sie hinterließ ein stechendes Gefühl im Magen. Ich brannte mit Whisky ihre Augen aus meinem Kopf und wandte mich weiteren Industrialisierungsversuchen zu.
Die neue Sicht quetschte die Leinwand. Der Soundmaster bearbeitete Hallenbad Kindergeschrei, der Klarinettist im braunen Anzug stand jetzt hemdsärmelig und blies ins blecherne Saxophon zart fortlaufend Schicksalsanklagen und führte in mein Familienjoch. Es hatte sich vor mehr als fünfzig Jahren entwickelt, zwanzig Jahre bevor ich geboren wurde. Und erst jetzt, mit dreißig Jahren, realisierte ich die noch andauernden Auswirkungen. Vorher fühlte ich auch etwas, aber es war nicht greifbar. Es gab etwas Düsteres, im Hintergrund Schwelendes. Es war die Unzufriedenheit ungenügend zu sein - aber wodurch oder warum? Ich tappte völlig im Dunkeln. Meine Großmutter hatte vorzüglich ihre Unzufriedenheit ausgetragen. Sie hatte immer geklagt, die Heimat fehle ihr. Es war die Luft, das Licht, das Wasser, alles war anders. Sie, die oft über ihren Verlust klagte, war aber die Fröhlichste und Ausgeglichenste und alle anderen der Familie wirkten blass, ängstlich, verbittert und still. Wenn meine Großmutter nicht gewesen wäre, hätte ich das fehlende Element, die Ursache, wohl nie heraus bekommen, denn wenn alle geschwiegen hätten, wie hätte ich als Unwissender - ich kannte ja das verlorene Land nicht - es jemals vermissen können? Nachdem meine Großmutter starb, füllte ich das Loch meiner Familie und wiederholte durch ständiges Reisen und Umziehen den Verlust der Heimat. Bis ich erschöpft meine Suche nach Erde und Verbundenheit wie aus heiterem Himmel erkannte. Ich saß in meiner damaligen neuen Wohnung und dachte, jetzt bleibe ich endlich wo ich bin. Und das war es. Ich war von nun an zu Hause.
Das Saxophon blies Beruhigendes über das Blatt, aber leise schleuste der Soundmaster einen kleinen Hai ein, der riss bald ganze Löcher ins Tanzparkett.
Das Mädchen saß, Ellbogen gestützt, auf der gegenüberliegenden Seite der Tanzfläche und streifte ihr langes Haar als Vorhang über den Boden. Ich suchte nach einer Möglichkeit ihr zu begegnen.
Ein junger Mann beugte sich geschmeidig zum roten Rock. Ihr Kopf wog zögerliches Fragen - sie war bereit für ein kleines Nicken! - sie nickte einem Anderen zu! Erdverschiebungen trieben meine Beine im schnellen Lauf zu ihr. Und da stand sie viel zu früh auf, und ging lächelnd mit dem jungen Mann zum Ausgang! -- sie kehrte ihren roten Rücken zu, verstummte hinter Säulen und Türen, sie glitt weit weg und riss mich ins bodenlose zurück. Ich taumelte dorthin, wo niemand mich kannte. Ich trug das sichtbare Zeichen großer Verschwiegenheit. - Ich war ein bornierter, blöder Affe!
Der Soundmaster verbeugte sich, die Zuhörer klatschten, der Master drehte den Bass hoch, der Boden wimmerte, die Ohren stumpften, mein Magen krampfte. Ich lief schnell zur Toilette und kotzte den Alkohol raus. Ich hatte den langen Tag über nichts gegessen, kein Wunder rebellierte das Gedärm auf Whisky! Ich tauchte in frisches Wasser und spülte ausgiebig den brennenden Mund, und beobachtete mein tropfendes weißes Gesicht im Spiegel. Die Wasserrinnsale versiegten langsam, die letzten Tropfen perlten ab und ich gewann wieder Land.
Inzwischen legte ein DJ Platten auf.
Ich schlüpfte aus vorgefertigten Meinungen, das junge Mädchen brach Berge und stürzte Erdmassen ein. Ich durchschritt den Balkon, raste die schwingende Treppe hinab und packte mit entscheidendem Arm große gläserne Türen. Ich wälzte mein Innerstes nach Außen. Der Auswurf meiner Absicht stieß auf kein Hindernis, alles war machbar, jede Abweichung meiner Zuversicht zerbröselte im Dunkel der Nacht.
Zwischen schwarzbunten Rädergestellen stand das Mädchen gebeugt über ihr Fahrrad. Ich umschmeichelte die Räder-Echsen und stand ganz dicht. Sie schnellte mit dem Schlossbügel in der Hand nach oben:
         "Ach du bist es!"
- Und ich streifte sie beiläufig am zarten Handrücken, mit Augen, die fest ihre dunklen Seen suchten:
         "Kann ich dir helfen?"
Den widerspenstigen eisernen Bogen schon in der Hand, führte ich ihn, ohne von ihr wesentlich abzuweichen, weiter ins schließende Fach am Rad.
Ich schob ihr Fahrrad in die Nacht. Sie hieß Lydia und war neu in der Stadt. Tiefere Schichten der Erde faszinierten sie, deshalb studierte sie Geologie. Ich fand mit ihr den Weg hinter einen Bauzaun und dann kam der Lehm über mich.