lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
Oskar Sodux
 
 
lauter niemand 2
 
Die Weißen Seiten
 
Hell ausgeleuchtetes Labyrinth. 
Randvoll mit weißem Geruch. Ebenerdiges Schachtwerk. Rechtwinklig sich verzweigend. Weißemäusefalle. Wegweiser, die sich in die Brust werfen, an jedem Abzweig. Buntfarben, vielversprechend, unverständlich. 
Wichtigkeit raunt unter weißen Kitteln. 
Huschige Wichtigkeit, aus den Augenwinkeln sieht man sie die Fußleisten entlangflitzen. Dann die Drahtglasschwingtür. Was dahinter lauert, fällt wie zerstäubt und in Milch aufgekocht durch die Facetten des Glases. Ich falle als Mehlschwitze durch die Tür, bevor ich das schwere Ding in den Angeln bewege. Breit genug, daß Betten hin und her geschoben werden können. Verloren fühlt sich, wer nicht im Bett vorfährt. Als Fußgänger drückt einen die weiße Stille, die denFlur ausfüllt, an die weißen Wände. 
Zimmernummernabzählspiel. 
Sind mir immer eins voraus. Als ich zögern möchte, bin ich es dann doch, der ab ist. Ein hoher, ein geräumiger Raum. Ein sauberer, ein nüchterner Raum. Ein heller Raum. Der Tür, durch die ich eintrete, gegenüber: eine Fensterfront bis auf den Boden. Drei Neonleuchten lassen von der Decke ihr Licht nicht in die eins, zwei, drei untergeschobenen Betten fallen. Der Raum ist voll von weißem Licht. Hier fällt nichts den freien Fall. 
Drei alte, drei kleine Herren mit drei spärlichen aber zerzausten Weißschöpfen, die aus der Bettwäsche herauszündeln, wenden ihre dreimal erstaunten Augenpaare mir zu. Übertrieben und zappelig, mein dreimal gemeinter Gruß. Ich habe Angst, daß drei alte Herren dreimal ihre
Notrufklingeln betätigen, und neun hereinrauschenden Schwestern mit einem Fingerzeig bedeuten, mich wie einen Schmutz zu entfernen. Aber drei erschöpfte Weißschöpfe sinken zurück in drei Kissenmeere, daß nur noch Nasenklippen fleischlos ragen. In eine windet sich ein Schlauch. 
Ich bins, der blanke Moderator! 
Euer schmieriger Nikolaus. Erkennt mich keiner? Die gute Tante aus der Bastelstunde, die euch Sinn basteln lehrte, in eure verstreichende Zeit.chämt euch eures bösen Traumes! Das Leben geht weiter. Führt mich herein als quicklebendigen Beweis. Als verhurte Geisel und Honorarkonsul. 
Auf drei von euch kommen sechshundert! Sechshundert, die euch sofort vergessen werden, wenn ihr euch starrköpfig weigert, aus bösen Träumen zu erwachen, euch frei zu schwimmen von Kissenmeeren, euch mit euren Schläuchen wieder der Zeit anzuschließen. 
Es dauert eine Weile, bis er mich erkennt. Er richtet sich freudig auf, küßt die Hand, die ich ihm reiche, wobei die Augen im Wirrkopf böse lachen.Dann schimpft er. Jammert. Redet verächtlich von seinen leisetreterischen Mitbewohnern in diesem Zimmer, deren Zahl er weit höher ansetzt als sie mir erscheint, bis ein feuchtrollendes Husten seine Tirade unterbricht. Die gescholtenen und vervielfältigten Mitbewohner: In der folgenden Stille hört man den einen röchelnd in seinen Nasenschlauch seufzen. 
Und die Stille wird weiß.
Der zweite hat sich auf die Seite gedreht. Unterm Bettzeug ahnt man die Handvoll Körper. Er starrt mich an mit den dunklen Augen eines entsetzten kleinen Tieres, das man in seinem Nest aufgestöbert hat. Er selbst, der dritte, wird wieder lebendig. Aus seiner Nachttischschublade unterbreitet er mir Beweisstücke und Indizien. Er entdeckt mir all die Komplotte und Anschläge, die in diesem Zimmer, in diesem Haus gegen ihn geführt werden. Seine Kollegen: ,,Wann blühen die weißen Sträucher?" fragt das kleine Tier, seinem Schreck hinterher ins weiße Licht hinein. 
Vielleicht zur Antwort jammert der Andere in seinen Schlauch.
Der Kleine zieht jetzt seinen Kopf in die Höhle unter der weißen Bettdecke, und macht von dort seinem Kissen schwache Vorwürfe. Er aber liegt jetzt fast lässig im Bett. Stützt den Kopf in die Hand. Schlägt die Decke zurück und stellt ein Bein hoch. Umfaßt das Knie mit der anderen Hand. Liegt da fast, wie sich ein eitles, junges Ding vor ihrem zögernden Liebhaber räkeln würde. In seinem weißen Faltenkleidchen. Rückt den Kathederschlauch zurecht, der sich übers weiße Laken zieht, wie eine glitzernde Natter, um mich dann einzuladen, Platz zu nehmen. Um mich herum, weiße Seiten in weißem Licht, schweben die frohen Botschaften zu Boden wie welkes Laub. 
Und die tänzelnde Lüge rutscht mir die Beine herunter, wie eine zu weite Hose.Und wie eine blöde, schmutzige Kartoffel fall ich auf sein weißes Bett. Und er, der die Besucher, die nichts verstehen wollen, dirigieren muß, in diesem Haus der ungenannten Komplotte, diesem Kabinett mit weißer Bettwäsche verhängter Spiegel, diesem Karton voll federleichter weißer Seelen, er nutzt meine Schwäche aus für Vertraulichkeiten. Seine trockenen, heißen Lippen hauchen Dürre in meine Ohren. 
Nur einen kleinen Gefallen soll ich ihm tun. 
Dann hätte der Weg, den ich nun schon einmal gemacht hätte, sich gelohnt.Im Sessel soll ich ihn ans geöffnete Fenster rücken. Damit er ab und an einmal, leise, aber vernehmlich, um Hilfe rufen könne. Jemand redet auf ihn ein. Er aber liegt im Kissenmeer und hört nichts als das dröhnende Gluckern, wenn er ausatmet. Ich gehe. Indem ich die zu große Hose festhalte. Ich gehe, und die drei zerzausten, weißhaarigen Kinder warten weiter auf jemanden, der ihnen vergibt. Wie eine Mehlschwitze gleite ich durch die Drahtglasschwingtür und verschwinde. 
Weiß und klumpig. 
Klumpig und fade menge ich mich unter die Lebenden.