lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
16.12.2002
 
Simon Schleusener
 
 
Die poetische Liebe zum Ereignis
 
"Die Ereignisse sind die einzigen Idealitäten" (Deleuze), und das Gedicht ist der Retter des Ereignisses - rote Blüten, die aus einer Dachrinne rieseln, Atemnot, der Aufstand der Matrosen von Kronstadt, bewegliche Schatten auf der gekalkten Fassade im Innenhof oder die Katze auf der Klaviertastatur: immer sind es Ereignisse. Heißt das dann, die großen Sinnkonstruktionen den Romanciers und Geschichtenerzählern zu überlassen?
Keineswegs, aber das Gedicht ist nicht stärker auf den Sinn angewiesen als auf den Nicht-Sinn - als Retter des Ereignisses zieht es sich durch alle Schichten des Materials, die gesamte Breite. Es existiert nicht, um die Lücken der Wissenschaften zu füllen, ist nicht angewiesen auf den Mangel der anderen Disziplienen, sondern lebt über, in und neben den Disziplienen, es nistet sich überall dort ein, wo es Ereignisse zu retten gilt; Zeit anzuhalten, zusammenzuziehen und zu verlangsamen; Dinge zu vergrößern, verkleinern, verknüpfen und "phänomenologisch" zu präzisieren. Die "Präzisierung eines Gefühls...", Präzisierung und Veränderung des eigenen Blicks - Ereignisse, Eindrücke, Empfindungsblöcke...
Daher ist das Gedicht unentwegt mit Kopulation und Nahrungsaufnahme beschäftigt: Es nährt sich aus dem jeweils zugänglichen Material, verknüpft einzelne Elemente und würfelt die Partialobjekte neu zusammen: Zeitungsüberschriften, Nackenhaare, ein abgerissener Rieme von einer Sandale, die Wolke, die sich in der öligen Pfütze spiegelt, Werbeplakate, Fernsehbilder, "und immer wieder sind es Knöpfe" - der Rausch des Textes besteht in der unvorhersehbaren Kombination der Möglichkeiten.
Das Ereignis erscheint immer fragmentarisch, denn nur die Sinnstiftung der Sprache vermag es, das Ereignis zu "binden", in einen Zusammenhang zu stellen, eine Kausalität zu konstruieren. Deshalb erweist sich immer da, wo das Ereignis ist, gerade der Körper des Gedichts - das zur fragmentarischsten literarischen Gattung zählt - als voller Körper.
Das Gedicht verknüpft ebenso, wie es auseinanderreißt, freie Räume schafft. Und immer ist es Liebe zur Welt - immer wieder wendet sich das Gedicht dem aktuellen Material zu: so wie auch eine Liebesbeziehung nicht bedeutet, pausenlos Händchen zu halten, sondern sich dem Anderen immer wieder zuzuwenden - auch nach dem Streit. Das Gedicht liegt im Streit mit der Welt, aber es liebt sie. Deshalb ist diese Auflösung, das Verschwinden im Buchstaben kein Verschwinden aus Angst oder Paranoia, sondern ein Verschwinden aus Liebe. Aus Liebe zum "Anderen" Buchstabe werden, selber "anders" werden, etwas anderes, immer wieder neu.