"Die
Ereignisse sind die einzigen Idealitäten" (Deleuze), und das Gedicht
ist der Retter des Ereignisses - rote Blüten, die aus einer Dachrinne
rieseln, Atemnot, der Aufstand der Matrosen von Kronstadt, bewegliche
Schatten auf der gekalkten Fassade im Innenhof oder die Katze auf der
Klaviertastatur: immer sind es Ereignisse. Heißt das dann, die großen
Sinnkonstruktionen den Romanciers und Geschichtenerzählern zu
überlassen?
Keineswegs, aber das Gedicht ist nicht stärker auf den
Sinn angewiesen als auf den Nicht-Sinn - als Retter des Ereignisses
zieht es sich durch alle Schichten des Materials, die gesamte Breite.
Es existiert nicht, um die Lücken der Wissenschaften zu füllen, ist
nicht angewiesen auf den Mangel der anderen Disziplienen, sondern lebt
über, in und neben den Disziplienen, es nistet sich überall dort ein,
wo es Ereignisse zu retten gilt; Zeit anzuhalten, zusammenzuziehen und
zu verlangsamen; Dinge zu vergrößern, verkleinern, verknüpfen und
"phänomenologisch" zu präzisieren. Die "Präzisierung eines Gefühls...",
Präzisierung und Veränderung des eigenen Blicks - Ereignisse,
Eindrücke, Empfindungsblöcke...
Daher ist das Gedicht unentwegt
mit Kopulation und Nahrungsaufnahme beschäftigt: Es nährt sich aus dem
jeweils zugänglichen Material, verknüpft einzelne Elemente und würfelt
die Partialobjekte neu zusammen: Zeitungsüberschriften, Nackenhaare,
ein abgerissener Rieme von einer Sandale, die Wolke, die sich in der
öligen Pfütze spiegelt, Werbeplakate, Fernsehbilder, "und immer wieder
sind es Knöpfe" - der Rausch des Textes besteht in der unvorhersehbaren
Kombination der Möglichkeiten.
Das Ereignis erscheint immer
fragmentarisch, denn nur die Sinnstiftung der Sprache vermag es, das
Ereignis zu "binden", in einen Zusammenhang zu stellen, eine Kausalität
zu konstruieren. Deshalb erweist sich immer da, wo das Ereignis ist,
gerade der Körper des Gedichts - das zur fragmentarischsten
literarischen Gattung zählt - als voller Körper.
Das Gedicht
verknüpft ebenso, wie es auseinanderreißt, freie Räume schafft. Und
immer ist es Liebe zur Welt - immer wieder wendet sich das Gedicht dem
aktuellen Material zu: so wie auch eine Liebesbeziehung nicht bedeutet,
pausenlos Händchen zu halten, sondern sich dem Anderen immer wieder
zuzuwenden - auch nach dem Streit. Das Gedicht liegt im Streit mit der
Welt, aber es liebt sie. Deshalb ist diese Auflösung, das Verschwinden
im Buchstaben kein Verschwinden aus Angst oder Paranoia, sondern ein
Verschwinden aus Liebe. Aus Liebe zum "Anderen" Buchstabe werden,
selber "anders" werden, etwas anderes, immer wieder neu. |