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Giudo Saslona
 
 
literaturlabor 08.12.2002
 
Bericht aus einer Gartenkolonie
Adaption an Franz Kafka "Ein Bericht für eine Akademie"
 
Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Freuden las ich heute in der Tagespresse Ihre kleine Anzeige. Sollten Sie jetzt auch erstaunt darüber sein, daß ich im hohen Alter das offene Wort noch einmal bemühen möchte, mich schriftlich hier erkenntlich zeigen will, so wundert mich das selber. Den Umfang meines ersten Berichtes werde ich wohl nicht noch einmal erreichen. Bevor ich aber Ihrer Aufforderung nachkommen kann, lassen Sie mich bitte mit der schauerlichsten Geschichte beginnen, die mir jemals noch zu Ohren kam:
Vor vielen Jahren verspeiste einmal ein junger Schauspieler in der Kantine eines weithin unbedeutenden Theaters einen gebratenen Papagei. Er wußte nicht, welcher Art der schmackhafte Geflügelteller war. Als er sich nun aber danach erkundigte und erfuhr, daß es ein Papagei gewesen ist, wurde er von einer so tiefen Trauer übermannt, daß er lange Zeit kein einziges Wort mehr über seine Lippen bringen konnte. Und das Wenige, was von ihm noch zu vernehmen war, geschah nur unter den höchsten Anstrengungen seinerseits, schrumpfte zu einem mit wilden Lauten durchsetztes Gestikulieren, daß weder Reden noch Erzählen oder jedes einfache Gespräch mehr möglich schien, und er noch lange daran zweifelte, dies jemals auch verstanden zu haben. Jahr um Jahr erst kehrte die alte Ruhe wieder. Doch bis dahin mußte der junge Schauspieler in dem kleinen Stadttheater, so, noch einen Auftritt über die Bühne bringen.
Im Rahmen eines bunten Varietéprogrammes ist er dort engagiert gewesen. Nichts besonderes: An fünf Abenden nur die üblichen kurzen Nummern, von denen er über viele Jahre hin einige zur Auswahl hatte, die er nach Belieben auch untereinander variieren konnte. Doch am hellichten Tag nach der Premiere verstarb der Intendant des Hauses und eine sehr merkwürdige Stimmung herrschte dort. Ihm auch gehörte der erwähnte Vogel, und der wiederum galt als seine einzige Hinterlassenschaft. Irgendwo hatte er ihn aufgelesen, oder er war ihm zugeflogen - daß wußte niemand so genau - und er schleppte das Tier dann durch all seine Verträge mit dorthin. Es war sein offenkundiges Vermächtnis, daß der Papagei Zeit seines Lebens dem Hause samt Ensemble noch erhalten bleiben sollte, in dem er selbst, der Intendant, sein letztes Wirken hatte.
Und der Name des Vogels war Friedhelm. Vorzüglich verstand sich der in den großen Dramen der Weltliteratur. Und wenn es auch nicht ganz zur Rolle der Souffleuse taugte - wer hatte so etwas auch schon gesehen, ein Papagei in der kleinen Muschel am vorderen Bühnenrand - so langte es doch allemal, sich die Mißgunst des Ensembles aufzuhalsen. Was lag da näher, als dieses Tier an einen nur Gast spielenden Akteur zu verfüttern. Soviel dazu. Bleibt zu hoffen, der Vogel wurde vorher auch betäubt, und ich möchte gar nicht wissen, welches bunte Potpourri aus Dramentexten ihm noch in der Küche lauthals aus dem Schnabel krächzte, als man ihn dann packte, würgte und das Schlachtbeil traf. Fast wollte ich endlich schreiben. Und ja, der junge Mann war einmal ich. Rotpeter. Der alte Affe, dem zwei Schüsse einst seine Natur erlegten und der sich, freiwilligen Auswegs Mensch zu werden, dann auf einer Überfahrt im Käfig wiederfand. Später im Varieté, dem ich die besten Menschenlehrer immer noch verdanke. Doch meine Zeit dort ist schon lange vorüber. Ich lebe allein, kann weder tanzen, springen noch hangeln. Und wenn ich mich in den Fragen der Vorsorge und Zukunftsplanung auch nie so recht verstanden habe, befinde ich mich doch bei einer guten Gesundheit.
Zweimal in der Woche kommt der Pflegedienst zu mir raus. Und ich mache noch immer die täglichen Übungen: Morgens ein paar Kniebeuge am geöffneten Fenster und abends dann auch noch mal. So habe ich die Lebenserwartung eines Affen fast verdreifacht. Und mein letzter Gang nach draußen brachte mich heute nicht weiter, als an der Ecke diese Zeitung und den Wein hier einzukaufen. Etwas, das ich mir nur selten leiste. Warum gerade heute, weiß ich nicht. Die Tage sind sehr heiß. Wahrscheinlich liegen die meisten Menschen jetzt noch irgendwo an den Gewässern herum. Mir aber schien es vorhin, als möchte das Wetter bald schon wieder umschlagen. Die Narbe auf der Wange juckte heute morgen und das Laufen fiel mir dann so schwer, daß ich mich wieder wie frisch angeschossen glaubte.
Nun fordern Sie die Leserschaft auf, sich ein paar Gedanken über die heutige Zeit zu machen, fragen, was die edlen Philosophen hierzu wohl alles sagen würden, so sie noch lebten. Ich befürchte, Ihnen darauf aber keine entsprechende Antwort liefern zu können, denn der aufmerksame Leser, den Sie mit diesem Inserat vielleicht erreichen möchten bin ich nicht. Am besten wird es sein, ich halte mich weit fern davon. Und den Ehrgeiz, als ein Philosoph zu gelten, hatte ich nie. Daß ich mich schon lange damit abgefunden habe, nicht mehr zu wissen, in welche Büsche ich mich überhaupt noch schlagen kann, können Sie sich denken.
Aus einer Ahnung heraus, welche der von damals jetzt so ähnlich sieht, schreibe ich Ihnen, fest der Überzeugung, daß jener erste Handschlag auf dem Schiff, wie auch mein erstes Hallo dort, der Affennatur kein wütendes oder größeres Ende bedeuten oder gar besiegeln sollte als eben nur einen Ausweg, der mir schon damals noch ein wenig dieser freiheitlichen Luft geheißen hat. Und wenn ich mich im abseitigen Schreiben mit der Zeitung auf dem Tisch hier auch nicht mehr ganz so unbeobachtet fühle, wie vielleicht noch heute morgen, da ich annehmen muß, Sie wollen gezielt auch wieder mich erreichen, als einen der sich treffen läßt, muß ich Ihnen doch sagen, daß ich keinen Gefallen daran finden kann, der Menschheit die beiden Schüsse in irgendeiner Art und Weise wiederzugeben. Denn das ist nicht die Sprache, in der ich einmal aufrecht denken lernen wollte. Und so beschränke ich meine Ausführungen jetzt nur noch auf den Abschied von der Bühne, die Zeit danach, und will es Ihnen auch nicht verübeln, daß Sie meiner Artistik lange Zeit kein Interesse mehr entgegenbrachten. Wem aber wenn nicht Ihnen, Werte Damen und Herren von der Akademie, sollte heute noch ein solches daran wachzurufen sein, was der junge Mensch einmal gewesen ist.
Rapide nahmen die Auftrittsmöglichkeiten ab. Aus den geräumigen Hotelsuiten der Metropolen bin ich hier, über die Bühnen der Provinz, in meiner so bescheidenen Behausung am Rande einer Gartenkolonie gelandet. Schüler habe ich keine. Was tat ich auch schon großes, dort im Varieté. Mit meinem jungen Menschenverstand gab ich doch weiter nichts als Küchentischweisheiten zum besten, Wortspielereien und Geplapper, wobei ich im entscheidenden Augenblick einer Pointe dann immer an die Lichttraverse sprang und mich wieder von der Bühne hangelte. Das war es, was die Leute von mir sehen wollten. Und spät erst begriff ich, daß meine großartige Stellung auf den Bühnen dieser Welt allmählich doch zu Ende ging.
Einmal bin ich auf einem Pferd geritten. Aber die mir unauslöschlich innewohnende Affennatur erregte die Gemüter des Publikums kaum weiter, als daß es erkennen mußte, wie wenig ich zu ihrer Unterhaltung noch beitragen konnte. Und länger wollte ich den Affen dann nicht spielen, schrieb mir die Auftritte allein zurecht, doch da hatte mich mein Impresario bereits verlassen, und mit ihm das Schimpansenweib. Mit einem Mal war alles aus. Ob Sie sich nun ein Bild von den großen Augen meines letzten Publikums werden machen können, weiß ich nicht. Mir gab es mehr als deutlich zu verstehen, daß ich, wenn ich auch den ganzen Abend lang da oben so herumhänge, ihnen doch kein Brot werde dazu verdienen können. Ich war nicht mehr gefragt.
Das letzte, was mich einmal noch erreichte, war das Drehbuch für einen Film. Ich in der Hauptrolle meiner eigenen Geschichte: Vom Angeschossenwerden über das Varieté bis in den Zoo, wo ich, mit Artverwandten eingepfercht, mein Gnadenbrot zu fristen hatte, immer nur abseits auf einem Felsen stehend und brüllend: "Ich kann auch einen Papagei! Ich kann auch einen Papagei!" und daß niemand mich, hinter als auch vor dem Zaun, dann noch verstehen sollte, bis ein mitfühlender Tierpfleger mich eines Tages bei sich aufnehmen würde, wo ich in Ruhe hätte alt werden sollen, nach einer Woche aber schon verstarb. Das ist kein Ausweg, dachte ich. Und die Bauchschmerzen wurden unerträglich. Mehr und mehr machte sich die Affenwelt wieder zum Gegenstand meiner Überlegungen.
Dann ging ich einmal noch auf Reisen, fuhr einfach los, die bequem zu erreichenden Theaterhäuser besuchen, und wußte selber nicht, was ich mir davon noch versprach. Weit gekommen bin ich nicht, nur zu dem einen, meinem letzten Gastspielort.
Am frühen Abend fuhr der Zug dort in den Bahnhof ein. Gleich machte ich mich auf den Weg zu dem zentralen Platz, setzte mich auf ein schattiges Gesims, dem Theater gegenüber und wartete. Allein die Fahrt dorthin ist ein einziges Schauen der Landschaft gewesen, wie ich es nie zuvor erlebte, so, daß ich im Abteil noch heftig an mich halten mußte, nicht wieder loszubrüllen. Jetzt aber saß ich dort, an eine Wand gelehnt und die, unter den Flügelschlägen der auf und auf flatternden Tauben, aufgeregt hin und her eilenden Menschen beobachtend.
Warten. Ja warten hatte ich gelernt. Nicht selten trafen die Gagen erst nach langem Bemühen meines Impresarios ein. Doch den alten Zeiten wollte ich da schon nicht mehr nachhängen. Vage nur begriff ich, daß meine Kunststücke alle schon lange vorher ausgehandelt waren. Und auch das mehr mit dem Bauch, denn ich kam auf keinen Grund, der mit Habgier nichts zu tun hatte. Wieder und wieder ging mir ein Wort durch den Kopf, das mir lange mit das schönste war, was ich dort jemals hörte: "Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt."
Bald fielen die Lichter wieder über das schwarze Pflaster. Die ersten Karossen fuhren vor das Hauptportal und gemächlich schlenderte das Abendpublikum aus den Seitengassen darauf zu. Und Namen waren da jetzt angesagt, die ich allesamt nicht kannte. Ich hatte nicht vor, in eine Vorstellung zu gehen, schlich an den Mauern vorbei in den Theaterhof, wo es jetzt dunkel war und nur ein dünnes, gelbes Licht noch aus den vorhanglosen Fenstern schien. Ich fror in dieser Nacht und es war feucht. Dann knallte irgendwo eine schwere Tür ins Schloß, und es wurde wieder still. Gleich wird die Vorstellung beginnen, dachte ich, seitlich neben dem Fenster, wo ich stehenblieb und nur gelangweilte Gestalten durch den Raum gehen sah. Doch ich kannte mich dort nicht mehr aus, wagte es nicht, diese Kantine noch einmal zu betreten. Und da auch brach ich meine Reise ab. Das war, bevor mich dieses seltsame Drehbuch erreichte. Und Sie werden verstehen, daß ich gerade damals die Menschenwelt neu für mich begreifen lernen mußte. Was ist der Schmerz, fragte ich mich, der Verlust meiner Jugenderinnerungen oder, daß ich angeschossen ihn erleiden muß? Hatte mich die Unwissenheit in diesen Dingen jahrelang in eine so falsche Sicherheit gedrängt, daß ich mich wirklich nicht mehr auskannte? War es falsch, daß ich mich einmal gegen die Natur entschloß? Da war es aber mit der Frage schon zu spät.
Und auf dem Heimweg dachte ich dann lange noch an meinen allerletzten Auftritt. Wie immer kam ich da im Anzug raus, sagte aber diesmal kein einziges Wort. Ich trat von hinten auf die Bühne und stellte in der Mitte einen roten Kinderstuhl aus Plastik ab, verneigte mich kurz und verschwand gleich wieder hinter den Vorhang. Dort wartete ich, bis im Publikum sich eine Unruhe breitmachte und mich die Angst anflog, jemand anderes könnte jetzt auf die Idee kommen und sich da einfach draufsetzen. Ich sprang an die Traverse und hangelte raus. Lachen und Raunen im Publikum. Und da hing ich nun, baumelte aus, fuhr mit den Blicken durch die Reihen, holte neuen Schwung und ließ mich voller Wucht nach hinten auf den kleinen Stuhl fallen. Dem flogen sofort die kurzen Beine in alle Richtungen davon. Kleine Pause. Und es wurde laut. Die Leute lachten und pfiffen. Ich sammelte die Stuhlbeine ein, stellte mich auf und jonglierte los. Und ich jonglierte lange. Figur nach Figur. Mal rechts herum, mal links herum, es wurde immer stiller. Ich sagte kein Wort, jonglierte nur, täuschte an, ein Bein ins Publikum zu werfen, ließ es hinter mich auf den Boden fallen, nur noch drei, im gleichen Tempo weiter, jonglierte, täuschte an, ließ fallen, zwei noch, einmal rechts, zweimal links, einmal wieder rechts und umgekehrt, jetzt muß es einfach ausgesehen haben, täuschte an, ließ fallen, eins noch, warf es hoch, und höher, und noch einmal, fing es in der Hocke wieder auf, warf es einmal noch und sprang ihm hinterher, fingerte es wieder aus der Luft, wobei ich mit dem anderen Arm mich an die Lichttraverse klammerte, und kletterte darüber ab. Verhaltener kurzer Applaus. Dann Stille, als das letzte Stuhlbein zu dem Restmüll auf die Bühne flog. Da dachte ich zum ersten Mal in meinem Leben: Feierabend.
Und was, dachte ich, könnte ein erneutes Auftauchen in der Affenwelt denn anderes bedeuten, wenn nicht solch einen Auftritt, so ein Jetzt-aber-an-der-Reihe-Sein, ein Kunststück, Mathematik. So arg war dieser Sprung, den ich ins Weltmeer nicht gesprungen bin? Dergleichen ging es lange fort. Und welche Strudel die Gedanken heute noch manchmal in mir auslösen, können Sie sich denken. Nie aber habe ich mich ernsthaft dorthin zurückgesehnt, wohl immer nur die Vorstellung liebgewonnen, was da alles aus mir geworden wäre. Und dabei tat ich dann auch gerne so, als hätte ich die Wahl noch einmal. Wo große Teile meiner Art schon in geräumigen Gehegen hausen, kraftlos eine solche Entwicklung, wie ich sie nun einmal durchlaufen durfte, selber zu unternehmen. Mag das zum einen an verbesserten Transportbedingungen liegen. Erheblicher wohl eher daran, daß an solchen Experimenten schon lange kein Bedarf mehr besteht. Den wenigen Wilden meiner Art sind ihre Lebensräume heute so begrenzt, daß sie sich in keiner Weise ein anderes Bild von dieser Welt mehr werden machen können, als welches sie vor ihren Augen haben, ohne dabei auch nur in die Nähe menschlicher Gefangenschaft zu geraten. Diese wachsende Enge wird ihnen immer auch Gefahr bedeuten müssen. Mag das der Schmerz sein, wenn die Narben jucken. Ich bin was ich gewesen sein könnte? Ich frage, also weiß ich's nicht, in all meiner Unkenntnis nur ein Nachgezogener des Wissens, der sich über den Unterschied zwischen Nachwuchs und Nachzucht jetzt nicht auslassen möchte, oder besser: Auf dieses Glatteis nicht begeben. Des Denkens bin ich müde geworden. Soll das auch gut vom Wein her kommen. Vielleicht fehlt es mir auch nur an technischen Möglichkeiten, zu erkennen, wohin sich diese Weltgesellschaft steuert. Soll sie machen, denke ich.
Ihnen wollte ich allein von meinen Tagen hier berichten. Und wenn der Pflegedienst morgen wieder auftaucht und sieht da in der Ecke die leeren Weinflaschen stehen, dann ist das nicht gut. Eine Pfeife will ich mir noch stopfen, ein paar Minuten in den Abendhimmel sehen, heute war der Sommer schön. Das Gezirp der Grillen vor dem Fenster. Da waren Amseln im Schnee, und Schmetterlinge - heute.