lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
16.12.2002
 
Monika Rinck
 
 
KONTEXTE
 
KONTEXTE:
eine seite umblättern. ein anderes gedicht. das neue gedicht schafft sich seinen kontext, aus einer adverbialen fügung, aus einer privaten etymologie, die stark genug ist, einen rahmen zu schaffen. aus dem plötzlichen aufruf des einzelnen worts und seiner verkettung soll die antwort auf die frage werden: wo sind wir. obwohl gedichte sprache nicht vorrangig als medium der informationsübermittlung adressieren, muss das gedicht informieren, sich seiner form stellen, diese form präsentieren, sich einen kontext schaffen, vielleicht stärker oder schneller (the speed of truth) oder pointierter (eine frage der opulenz) als andere textsorten. der kontext steht immer wieder neu zur verhandlung: sich stellen. sich vorstellen. framing.
DAS VERTIKALE WORT: es gibt worte, die dem gedicht unverzichtbarer sind als andere. das wort, das die schichten aneinanderheftet, oder: das sich durch die schichten fräst. ein wort, wie ein bizarres objekt, ein beta-element (bion), das wort, das zirkuliert, obwohl es seinen platz hat, die tiefe, die höhe. „so heißt das wort nur", formuliert deleuze und öffnet ein fass ohne boden: den infiniten regress. diese worte lassen sich ausmachen. sie sind der sitz einer dringlichkeit, über deren warum und woher sich nichts aussagen lassen können muss.

DER KOFFER, DIE KLEIDER:
die vorteile des gemacht-seins, die vorteile des gewolltseins: präzision.
auf tritt francis ponge:
>>Und mein Gefühl von Literatur ist oft, wenn ich nach einem Gespräch nach Hause komme, wo ich den Eindruck hatte, alte Kleider, alte Hemden von einem Koffer in den andern zu packen, all das auf dem Speicher, wissen Sie. Ein bißchen verschwitzt und dreckig, unangenehm auf der Haut. Ich sehe die weiße Seite und sage mir: „Mit ein wenig Aufmerksamkeit kann ich vielleicht etwas Sauberes, etwas Klares schreiben." Um etwas zu machen, das gelesen, wieder gelesen werden kann, auch von einem selbst, und das nicht an diesem Zufall der Worte teilhat. Gegen den Zufall. Die Zufälle, das sind vielleicht extrem komplizierte Gesetze. Und vielleicht kann ein guter Text Zufall in diesem Sinne sein. Sehr mehrdeutig. Ein anderes Gesicht bei jeder Lektüre. Aber eine Sache, die nicht zerfällt und die gleichzeitig mit dem angenommenen Leser weiterlebt, wenn es auch nur ich selbst wäre.<<
aus: Literarische Praxis. Nach der Aufnahme eines Vortrages in der technischen Hochschule Stuttgart am 12.07.1956 rekonstruierter Text.
dann, im besten fall kann es zu einer exaktheit kommen, die ihren ort in der zeit hat und dort auch wieder verliert: und wenn es gut ist, das wort, der satz, ist es die gelungene balance, die verkörperung. in der schaumwelt, gegen die schaumwelt, mit der schaumwelt (heinrich).

WIDERSTAND UND EINFACHHEIT
nicht komplexität absichtlich. nicht verdunkelung, die metaphern werden festgezurrt und es dringt kein licht mehr ein, nur einer hat die hand noch am schalter. das nicht. aber: zur entfaltung braucht es die falte. gute gedichte haben etwas, durch das man vorerst nicht einfach durchkommt, eine besondere beziehung zur zeit. das kommende verstehen, ein kontrakt, der mittels vertrauen zustande kommt. gedichte können der ort sein, wo die geschwindigkeit des verstehens zum gegenstand wird. etwas, das sie haltbar macht, das späteres wiederlesen belohnt. eine nachhaltigkeit, wie ein langsamer zaubertrick (clayton), nicht ein „decking the sense as if it were to sell" (herbert).
andererseits: die schönheit des einfachen, wie das öffnen einer hand... verse, die kaum gelesen, sich anschicken einen überall hin zu begleiten, für lange... ja, auch das...

DAS PELZTIER
einen gedanken in eine beständige, aber auch bewegliche form bringen, eine form, die auch seine zum unsagbaren offenen, aus noch stummer erfahrung bereicherten ränder faßt. dort, wo das erkenntnisinteresse sich mischt mit seinem schwer fassbaren warum, seinem noch vordiskursiven movens hat das gedicht dem essay, der analyse etwas voraus, obwohl es von beidem etwas haben kann. hier kann präzision ebenso am werk sein, wie die klassischen momente sowohl der traumbildung als auch der poesie: verschiebung und verdichtung.
ein gedanke, der interessiert: das tollkühne aufgebot des letzten stolz nach einer überwältigenden narzißtischen kränkung, kann ein pelztier werden, klein wie ein nager, das entwischt.

DIFFICULTY
>>Poetry can offer us images of the activity of making language authentic, whether that involves rejecting a phrase that „first enhances, then debases," or mining clichés for the core of vitality that remains in them. But poetry can also warn us against the temptation to imagine that we have arrived at an absolute and unassailable lucidity. Poetry, because it has the potential to be the most difficult kind of writing, can most effectively pose the demands of experience, as they are sedimented and embodied in the language we use, against their reduction in the formulas of skepticism that now come so naturally to our minds and lips. It has become easy for us to identify the categories and habits of thought produced by the skeptical intellect with truth, even when we have dissolved the notion of truth back into a language game or an effect of power. Poetry, by bringing us to a greater awareness of the languages by which we understand our experience, should help us resist the reduction of experience to formulas, whether those are the formulas of lyricism or of lucidity. But to do so it will have to be difficult.<<
aus: Vernon Shetley: After the Death of Poetry.
Durham & London: Duke University Press 1993

DIE TÜR 1000 MAL SCHLIESSEN:
das schließen einer tür kann alles sein. was es sein kann, geht über die reine prädikation hinaus. doch für welches schließen kann eine form die einzige sein? hier setzt die arbeit an der übereinstimmung ein, die übersetzungsleistung von sprachlosigkeit in sprache. das gedicht weist auf die stelle, auch die stelle in der zeit, in der das alles, welthabe, weltaspekte, sprache werden will, und erhält sie, als schwelle.

DAS BESSERE SCHEITERN:
das alles muss freilich nicht immer gelingen. die forderungen aus den obigen behauptungen ergeben dann den einen oder anderen hohlen klang, einen falschen heroismus der eigenen absichten. so tönt das missige verhältnis zwischen der eigenen produktion der eigens hinzu produzierten theorie. trotzdem: zum gedicht gehört auch die zeit (die dauer) des schreibens, des verwerfens, neu beginnens, löschens und scheiterns, wobei das scheitern dann vielleicht von einer anderen, besseren art ist, als das scheitern in den seriellen frustrationen des alltags.

 
rinck songsofaserbaijan
© Monika Rinck / songsofaserbaijan / 2010