lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
Alexej Moir
 
 
lauter niemand 3
 
Das gelobte Land
 
Anna war endlich eingeschlafen und zu boden geglitten. Erst hatten sich ihre arme von mir gelöst, dann waren die um meine hüfte gegrätschten beine heruntergesunken, einfach abgefallen wie aufgedunsene blutegel. Überall lagen flaschen herum.
Das morgenlicht strich widerstrebend über die aufgeweichten etiketts, spielte mit den plattgetretenen verschlüssen, umriß die ränder schmutzigen geschirrs, halbverdreckt von hosen, röcken, zerknüllten blusen und einem haufen kopftücher - Anna liebte diese bunten tücher, unter denen ihr schwarzes haar wie eine direkte zu greifende verheißung hervorquoll - dazwischen speisereste, brot auf dem weg zu schimmeln oder schon darüberhinaus.
Über allem stand die würgesäule der luft, denn Anna hatte es strikt untersagt, das fenster zu öffnen.
- Ich mag's nicht -
Alles von draußen mache krank. Man ersticke ja nur an dem, was man frische luft nennt. Denn das komme ja herein: staub, pollen, winziges, unsichtbares getier fresse sich überall hinein. Und erst nachher, vielleicht monate nachher, merkt mann's. Dann ist's zu spät. Womöglich ist es jetzt schon zu spät - und überhaupt ...
Was dann überhaupt sei, ging in einem ungekürzten hustenanfall unter, der ihr tränen in die augen trieb. Aber die wären auch so gekommen.
Mit einem schon durchweichten papiertaschentuch putzte ich ihr die nase ab. -
Heb mich auf - schluchzte sie - heb mich ganz auf -
Anna ließ sich gehen. Anna trank. Anna lebte in einer angebrochenen Sardinenbüchse, hatte es sich im ranzig gewordenen öl bequem gemacht und wollte nichts anderes mehr.
Seit zwei monaten schlief ich mit ihr. Wir lagen in ihrem viel zu großen bett in ihrem viel zu großen zimmer.
Es roch nach gestärkter wäsche, sie selber nach einem südlichen pflanzensaft, dessen namen sie mir nicht preisgeben wollte. Ich müsse ja nicht alles wissen. Sie lachte, hielt mir den mund zu mit daumen und zeigefinger, die sie zuvor befeuchtet hatte. Ich nahm es als zärtlichen kuß, der mich schweigen und ihr zuhören ließ. Eines abends fand ich sie zusammengesunken vor dem bett. Aus ihrer sonst völligen erstarrung tasteten sich manchmal nur dünne vogelschreie hervor, die zerbrochenen töne einer nachtigall, deren mechanismus eingerostet war.
Ich hob sie sanft aufs bett, ließ ihr langes haar durch meine finger gleiten, als suchte ich seinen anfang oder sein ende und redete auf sie ein: man müsse noch mal ganz zurückgehen, ins gelobte Land, in die antike oder so. Groß sei die Artemis ja schon gewesen. Aber sie, Anna, sie größer, verdammt noch mal, viel größer ... Groß sei die Artemis ja schon gewesen. Aber sie, Anna, sie größer, verdammt noch mal, viel größer ... Ein andermal lag sie quer über das bett hingerichtet. Nie mehr würde sie reden wollen. Sie fühlte sich entkernt. Ein recorder ohne kassette. Ihre träume, ihre phantasie, ihre lust vernichteten sich gegenseitig.
Die kahlgeschorene Delila hängt in den seilen des boxrings und starrt das übergroße plakat des champions an: halbacht - aufgepaßt - wenn - wenn - die nacht - blutleer geschlachtet - wartet - der sänger - singt - singt falsch - sinkt hin
Der champion, des gestammels müde, klettert aus seinen konturen heraus und verschwindet mit ihrer abgegriffenen brust, die er wie ein feuchtes tempotaschentuch zusammenknüllt.
Anna schrie nicht einmal mehr auf.
Sie trank immer mehr, mied ihren job, ließ mich nur noch selten zu sich und tat dann so, als würde sie mich nicht kennen.
Als ich anfang mai mit zwei kinokarten zu ihr kam, war die wohnung leer. Ich sah sie dann in den parks, vor der ubahn, am fluß ... Eine ungesagte geschichte stand zwischen uns und hinderte mich daran, auf sie zuzugehen.
Nicht einmal dann, als sie mit zwei plastiktüten auf der bank hockte und ein etwa vierzigjähriger mann, der seinen dichten, schwarzen schnauzbart auf sie zugeschoben hatte, seine goldberingte hand - daß er sich dabei nur nicht mir seinen ringen verheddert - unter ihren rock stieß. Sie selber schien abwesend, lachte vor sich hin.
Er packte sie nicht unnötig grob und drängte sie in ein gebüsch. Die kurzen, bekannten laute in vielen gebüschen, hinter dem bauzaun, unter der brücke.
Und dann war sie es, die mit ihrer mageren hand in die hosentür ihrer kavaliere fuhr. Sie brauchte nicht länger geschoben zu werden. Sie hatte einen teil ihrer tatkraft wiedererlangt.
Am fünfzehnten august, erst zwei tage später stand eine kleine notiz in der zeitung. Sei Anna beim zirkus am Fendplatz gesehen worden. Der äußerst schwüle tag ließ sie sich ständig über ihre dünnen brüste fahren, sie drücken und quetschen. Der graue hengst, der afu einem kleinen stück rasen angepflockt war, hatte es ihr angetan.
Moses hatte es geschafft. Selbst die spötter hielten vorerst den mund. Dort drüben würden milch und honig fließen. Dort - wie, wußte keiner - und es war sein erigierter arm, der auf das blutige meer, genannt das rote, zeigt.
Anna war unter das tier gekrochen und versuchte mit daumen und zeigefinger, die sie befeuchtet hatte, den penis in ihren mund zu schieben.
Das erschrockene pferd trat wild um sich.
Nur eines schien erstaunlich: im völlig vermantschten gesicht Annas war kaum blut.