lauter niemand - bio - prosa - lyrik - text
2010
 
Katrin Heinau
 
Zum lauter niemand preises für politische lyrik 2010
 
Vorwort zur Auswahl
 
Für den lauter niemand preis für politische lyrik gab es für die Juroren Einsendungen von 414 Autoren zu lesen, von denen nur wenige in die engere Auswahl kamen und im Reader zur Lesung oder im Internet veröffentlicht werden. Der folgende Text ist der Versuch einer Bestandsaufnahme der gesamten Bandbreite des Geschriebenen, denn von Interesse für den Stand der politischen Lyrik im deutschsprachigen Raum sind nicht nur die Preisträger und die in die engere Auswahl gekommenen Teilnehmer. Zugleich gibt der Text Auskunft über einige der Kriterien der Auswahl aus der Sicht einer der Jurorinnen.

Welchen Inhalt haben die eingesandten Gedichte, was kommt darin vor? In beliebiger Reihenfolge: der Schuldenberg, Herr Westerwelle, babylonische Verhältnisse, Wut auf Banker, Arbeitslosigkeit, der Bundespräsident, die Bundeskanzlerin, die Festung Europa, der Tod im Mittelmeer, Krieg im allgemeinen, Krieg in Irak und Afghanistan im besonderen, die Ölpest, die Einwanderung, Kindesmissbrauch, Kindersterben, Hunger, Hartz IV, Erziehungsappelle, Appelle an Toleranz und andere Tugenden, z.B. die der Beschränkung („lebt wieder einfacher ... kauft kleine Autos“). Es gibt Gedichte über Trostlosigkeit und Zurückgezogenheit, über Politikerverdruss, über Obama, über Abtreibung, über die Utopie dass Männer sich verändern, über das Wählen, über Denkmäler, das Job-Center, KZ und auch wie man sich da benehmen soll, NS-Vergangenheit und Nazis in der Gegenwart. Es gibt Selbstbezichtigungen, Besserungsgelöbnisse, Gedichte über Ideale der Jugend und verlorene Illusionen, die Krise, den 11.September, Selbstmordattentäter, über Zivilcourage in öffentlichen Verkehrsmitteln, Bomben im allgemeinen, über Fremdsein und Sich-selbst-Fremdsein. Es gibt religiöse Gedichte, Weltuntergangsgedichte, Weltanschauungsgedichte, Splatter Movies, politisches Getwitter, Gedichte über die DDR, über die Mauer, über Bitterfeld, über Uni-Streik, das Soldat-Sein. Es gibt Fussball-Gedichte, Gedichte über die Rolle der Frau, ein Gedicht über einen Bordellbesuch, Gedichte über das Meinungen-Haben, Gedichte über Gut und Böse, über Reich und Arm, über die da oben und wir hier unten, Gedichte über Polizei-Einsätze, Gedichte über große Vorbilder, Brecht-Neudichtungen, Tristesse der Städte, Obdachlosigkeit und erfahrene Armut und Ausgrenzung. Es gibt Gedichte über Radiohören und Fernsehen, Gedichte über Tiere, Tierhaltung, Tiertransport, Schlachtung, ein Lob der Hausfrau. Themen sind der Suizid des Nachbarn, der Kapitalismus, die Kapitalisten, es gibt Gedichte über die Sattheit, über Ausländerfeindlichkeit, Gedichte über einzelne Länder (z.B. Serbien), über Tretminen, Drohneneinsätze, Kopftuchfrauen, über den Bürger als Konsument, über Demokratie, den Palast der Republik, es gibt Dialektgedichte, Gedichte über Sprachstrategien, Deutschland-ein-Wintermärchen, die Sozialdemokratie.

Welche Formen und Mittel wurden verwendet und waren sie angemessen? Was lässt sich zur Haltung der Autorinnen und Autoren sagen?
„Lachhaft gut als Versreplik/ ist die Bundesrepublik“. Selten fand sich wirkliche Satire, obwohl dies häufig beabsichtigt war. Es gibt zynische Glaubensbekenntnisse an die Macht des Öls und an Bill Gates, und es gibt Gebete an falsche Götter (Kapital unser). Wir fanden Neudichtungen der deutschen Nationalhymne und einiges in Liedform, vieles gereimt, manches parabolisch, wenig strenge Formen, das meiste frei und verschieden überzeugend in Rhythmus und Lyrik.
Zu Mitteln und Haltungen, die den Gedichten meist nicht gut tun, zählen: der schnelle Gag bei fehlendem Ernst („Guten Morgen, Sklaven, aufgestanden und geduscht“), Zynismus ohne Überschreitung, („Ein Dichter im Golf von Mexiko/ wird seines Lebens nicht mehr froh“, womit der Abdichter gemeint ist). Immer fatal ist Selbstgerechtigkeit (z.B. sich zu wünschen, man sei eine Geisel im Irak, damit die Regierung endlich etwas für einen tut). Allgemein-Bleiben ist vielen Gedichten hinderlich, ebenso das Anstellen politischer Betrachtungen aus der Ferne oder das Verwenden unbearbeiteter Begriffe aus den Medien. Andere für dumm erklären bringt nicht viel, ebensowenig: mit der Axt Rührung erzeugen wollen, Einfühlung ohne Anschauung, Reime ohne Dosierung („Banken sie wanken“, „Literatur“ reimt sich auf „was mach ich nur“). Ungünstig sind Abstraktionen („was wissen gladiolenartig aufblühende städte/ von den strömen des kapitals?“), das Gute ausrufen („In was für einer Welt leben wir eigentlich?“), Pointen und Erschießungen a là Tarantino, die Pose des Harten, das Kokettieren mit dem Soften, die Schlauheit des Autors („Sind die Leute denn wirklich so blöd“). Ausgeschieden ist Epigonales, Nationales, Unverständliches („& dann geschehe ich unter vernunftbehang“), Anachronistisches („es war zu erwarten dass die Welt untergeht“), ungewollt Komisches („Wie mich die Traurigkeit erfasst/ wenn ich von Mauer’s Zinnen runter blicke“ oder „Ich flute vorbei“). Nicht einnehmend sind Häme („Dereinst beißt auch Herr Habermas/ mit Sicherheit final ins Gras“) und falsche Moral („doch halt, auch sie ist ein Mensch!“), staunenswert dagegen manche Fixierungen („arschgefickter Gegenwille“, „fuckriger Firlefanz“).

Was die Beurteilung schwierig macht, sind: Emotionen, die auf der Seite der Schreibenden bleiben; eine spürbare Verzweiflung, die den ihr adäquaten Ausdruck nicht findet; Wut, die im Zynismus gegen sich selbst gerichtet wird; Ironie, die dazu dient, das Klischee zu wiederholen, wo ein Schritt ins Unbekannte schon helfen könnte. Ironie gehört leider zu den bevorzugten Ausdrucksmitteln des Spießertums („die hehren Ideale meiner Jugend“) und verführt zu sorglosen Erfindungen („BP teilt die letzte Ölung auf Teppichen aus“).

Was den Gedichten meistens gut tut, sind: Konkretion, Erkenntnisinteresse, Zerstreuung von Gewissheiten; es kann gut sein, wenn Gedichte einfach sind, es kann gut sein, wenn sie kompliziert sind, wenn ihre Mittel angemessen gewählt wurden, wenn ihre Verfasser sagen wollen, was sie schreiben, wenn sie sich nicht verteidigen wollen, wenn sie sich nicht selbst interpretieren. Die angefügte Auswahl soll für sich sprechen. Der geplante Reader im Internet mit einer größeren Auswahl an Gedichten kann dann hoffentlich zeigen: Der gewiefte Autor steht nicht besser da als der unerfahrene.

Die Lektüre so zahlreicher und so verschiedener Texte fand ich anstrengend aber lohnend, und ich danke beinahe allen Einreichern.