lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
André Glusgold
 
 
literaturlabor 15.03.2003
 
Plan 9 from outer space
 
In Erinnerung an frühe Dunkelheit
das Gewebe aus Pflastersteinen,
das sich Straße, Außenwelt nennt,
das Auseinanderdriften von Mustern,
Parkplätzen, Schnee, eine einzige Tatsache,

daß es weitergeht, das Forschen nach
Verständlichkeit all der Codierungen,
wachsende Bäume, Organismen, 36,6° Celsius heiß,
und die Tüten erst, Produkte, Produkte
des expandierenden Bewußtseins,
Straßenlaternen und Autos, und alles

funktioniert, und alles funktionierte
schon vor meiner Geburt und danach,
unabhängig vom Rauf- und Runterscrollen
der Gedanken, vertauschbare Einheiten,
verhandelbare Botschaft, in jeder
Lichtwelle des Alls
 
 
Ein Mann unter Einfluß
 
Die Stille ist eine Magnolie. In die Geometrie
der nicht ausgeführten Bewegungen verpflanzt,
ist sie ein Wegweiser, eine Folie über dem Fluß,
die dünne Haut über dem Auge eines Reptils.

Die Stille ist ein leises Wachsen der Knochen,
ein Eimer Blut angefüllt mit dem Wissen um Verfall.
Die Stille ist ein Daunenbett für die Wunden,
eine Kapuze des Ku-Klux-Klans aufgesetzt

kurz vor dem großen Brennen.
Heerscharen von unsichtbaren Insekten bewegen sich
im Bauch nach ihrer Zugehörigkeit suchend.
Die Stille ist ihre perlmutterne Mutter.
 
 
 
Auf dem Alexanderplatz
picken die Leute ihre Einkäufe und tragen
wie Elstern jeglichen Schnickschnack
in ihre Plattenbaunester Jugendliche
demonstrieren jeden Tag eine gute Tat
auf diesem salzverkrusteten Exerzierplatz
sah ich im Winter 97 eine Frau mit einer
Nasenprothese und kaufte ein Buch über
die flämische Malerei niemand lachte um 1500
das Abziehen der Haut bei lebendigem Leib
war auf einem der Bilder zu sehen
 
 
literaturlabor 15.09.2002
 
The last picture show
für Peter Bogdanovitch
 
Die stumme Marshmellowtraurigkeit eines John Waynes
zusammengeschmolzen über Nacht ist nicht das, worauf

Amerika so erpicht ist. Die Trucks ziehen vereinzelt durch
die Prärie wie ausgestoßene Tiere auf der Suche nach einer

neuen Bleibe. Die spitzen Brüste von Highschoolmädchen
ragen mit den Kirchtürmen um die Wette aus einer Szenerie,

die nach einer Kopie einer Kopie einer Kopie aussieht, weiter-
gereicht von Vater zu Sohn. The american way of dreaming.
 
 
Die kahlrasierte Frau
 
Die kahlrasierte Frau aus dem Hinterhof führt ihre langen
vertrockneten Glieder spazieren. Wie eine Heuschrecke
streckt sie ihre Knie durch den Hof. Sicherlich hat sie
Angst vor den weichen wuchernden Polstern. Das saftige
Gras flieht sie mit jeder Mulde des Körpers.

Die kahlrasierte Frau aus dem Hinterhof ist streng zu
sich selbst. Niemals nennt sie ihren geheimen Geliebten
beim Namen. Haß ist sein richtiger Name. Haß auf das
Pochen der Hämmerchen unter der Haut. Haß auf alles,
was sie verwundbar weich wendet.

Die kahlrasierte Frau pflanzt Knochen für Knochen dan
Rosenkranz ihrer Schritte fort. Nachts begleicht sie ihre
Rechnungen mit dem Teufel. Er wohnt in der Unordnung
der Dinge, in deren Verrückbarkeit. Manchmal sieht man
auch ihren Sohn. Er ist klein, blond und ganz anders.
 
 
Das Haus
 
Durch seine Häute pulsiert es. Und auch im Hof.
Eine kleine Fontäne rauscht dort Tag und Nacht.
Das Haus ernährt sich vom inneren Ton seiner
Bewohner. In der Nacht wiegt es am meisten,
ein voll gefressener Monolith mit schwarzen
Sirupgedanken. Tagsüber flattern die Schreie
der Kinder ein und aus, und an den Gegenständen
entlang tastet sich vorsichtig das Licht, immer in
Richtung der dunkelsten Ecken. Das Haus war
schon vor uns da. Es kümmert sich nicht um uns.
Es weiß mehr, als es vorgibt. Das Haus ist nicht
geschwätzig.
 
 
literaturlabor 07.07.2002
 
 
so unwach, wie der unwachste Tote,
zusammengeklebt aus Puzzleteilchen
im Zustand des „kontrollierten
Außersichseins“, ach ja und der Regen
alles nur eine Morgenphantasmagorie,

„mit 40 Stichen getötet“, beim Reinbeißen
in Frühstücksbrötchen, hinterher ist es
den Toten egal, wie sie gestorben sind,
und dann dieser Nachahmungseffekt
beim Aufstehen, Gehen, Sprechen,

ich möchte einen klaren Schnitt
von Kopf zu Kopf, von einer höheren
Warte betrachtet ist alles gut,
der Feind sitzt in den Schützengräben
hinter der eigenen Stirn und raucht
 
 
 
Der Himmel legt sich mit seinem teigig grauen Leib auf
die Stadt. Aus allen Poren rinnt es zwischen die Häuser.
Nichts bewegt sich. Nur der Wind. Nur der Mann im
gegenüberliegenden Fenster telefoniert und geht auf
und ab. Sein Fenster ist nicht erleuchtet. Ich sehe, wie
seine stachelige Oberlippe sich beim Sprechen bewegt.
Ich sehe seine vom Rauchen gelbe Zähne. Einige sind
gesplittert. Ich sehe die Luftbläschen in seinem Speichel.
Wie er in den Körper hineingleitet. Nichts davon sehe
ich. Der Himmel ist aufgestanden und geht.

 
 
Kühlungsborn
 
Die Wellen nuscheln seit Jahrtausenden immer
das gleiche Lied. Von einer unsichtbaren Hand
an den Himmel gepinnt, verharren die Möwen

zwischen Papierdrachen, an deren Enden kleine
Männchen zappeln. Das Gras ist entgegen der
Strandordnung zerzaust. Schwarze Baumstämme

steigen aus den Wellen wie ein erneuter Einfall
der Wikinger auf. Hinter der Promenade rüstet
das Heer der Playmobilhäuser zum Gegenangriff.
 
 
literaturlabor 26.05.02
 
An die Stadtreinigung
 
Zur Kastanienblüte sieht man
auf Parkbänken unter Laternen
überall das gleiche Stilleben:
Teenager zerfallen zu Schmelzkäse:

Wer wird sie morgens abholen,
wenn das letzte Eichhörnchen geht,
seine rote Nase ins Eisfach zu legen?
Nein, ich habe dazu keine Lust.

Wer wird ihre kleinen, klebrigen Herzen
von den Parkbänken sauber kratzen?
Nein, ich habe dazu keine Lust.

Wer wird den bärtigen Müttern
ihre Tränen von den Schürzen wegküssen?
Nein, dazu habe ich keine Lust!
 
 
Hinterlassen Sie Ihre Nachricht nach dem Piepton
 
in den geschlossenen Räumen
kommunizieren die Röhren

ich sitze aufrecht
wie Buddah im Scheißhaus

klitzekleine Gedanken
krabbeln durch die Ritzen

auf triefend nassen Straßen
jaulen Katzen

man muß unbedingt modern sein
singen sie
 
 
Die Motte
 
In meinem Zimmer lebt eine Motte.
Mit dem Flügelschlag eines Adlers
kreist sie unter der Decke.

Ich jage sie mit dem Küchenhandtuch.
Zwanzigfach, hundertfach schlage ich sie
mit den Fettflecken tot.

Ich schlage sie
mit den Strahlen der Glühbirne;
mit den Schuhabsätzen meiner Augen.

Ich schlage sie mit dem Rattern
der automatischen Selbstschußanlage
im Kopf.

Von morgens bis abends jage ich sie,
mit der Gründlichkeit eines Steuerfahnders;
mit der Besessenheit eines Besens,

bis sie weg ist.
 
 
literaturlabor 12.05.2002
 
Winterglück
Ein Aufsatz
 
Bärtige Männer mit breitem Kreuz führen ihre quengeligen Freundinnen
in den Park aus. Der Park freut sich über die Besucher. Denn die
Spaziergänger massieren mit ihren Füßen seine alte, grindige Haut.
Die Freundinnen zwitschern unaufhörlich beim Gehen und lassen so
Dampf ab. Die Kinder düngen mit glücklichem Sabber die Erde.
Und die älteren Paare ermessen mit gemächlichen Schritten das,
was sie demnächst jahrelang von unten anstarren werden. Alles ist
von einer tieferen Harmonie und Sinn erfüllt. Und selbst Junggesellen,
die mit düsteren Blicken unter der Pudelmütze durchs Unterholz
streunen, kommen auf ihre Kosten. Immerhin können sie so ihre blassen,
tränenbehangenen Wangen an der frischen Luft trocknen.
 
 
The day after
 
Den ganzen Morgen lang machte ich Entgiftungsübungen.
Ich trank Saft aus Gurkengläsern, lechte mich in Form eines S
und zischte laut, massierte mir Ohren. Nichts half. Später
ging ich auf die Straße, um die Pflastersteine zu zählen. Sie
waren glitschig und glänzten wie Fischschuppen. Selbst die
Hunde lachten, als sie mich sahen. Um nicht auszurutschen,
kaufte ich mir eine Zeitung. Die Druckerschwärze beruhigte
mich ein bißchen. Immerhin war sie etwas, das galt.
 
 
Turkish delight 2.
 
Große Insekten überflogen die Küstenstreifen. Ich fragte mich,
ob ich mich vor ihnen im Tosen der Brandung, das alles übrige
in der Dämmerung überdeckte, verstecken sollte, oder noch tiefer,
dort, unter immer dunkler werdenem Wasser, wo keine Schreie
der spielenden Kinder mehr durchdringen würden.

Doch nein, ein Mann mit einem Gewehr kam aus den Büschen hervor.
Man hat ihn gesandt, um mich vor Insekten zu schützen. Leider verstand
er meine Sprache nicht. "Pig, pig!", stammelte er und verschwand.
Also blieb ich regungslos auf dem Felsen sitzen. Vielleicht würde mich ja
die immer enger um mich zirpenden Grillen übersehen.
 
 
lauter niemand 3
 
Tollwut (Disko)
 
Bellen,
            beißen,
                         knurren!
Mein Körper
            hat heute
                         frei.

Rasende Schatten hämmern
auf zuckende Leiber ein.

Ein Penis
            tobt
                         auf der Bühne
Jetzt aber
                         Leinen los!
Heute
            bin ich
                         ein Husky
mit glänzendem
                         Achselschweiß.