lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
 
Clemens Franke
 
 
literaturlabor am 26. Februar 2012
 
Ausnahme
 
Eine fast frühlingshafte Luft an diesem zweiten Weihnachtstag, aber davon kann ich nichts wissen. Ich blinzele mit den Augen, sehe unbekannte Konturen, die zu Gegenständen werden. Neben meinem Kopf steht ein Ascheeimer. Die offenstehende  Luke eines Ofens verströmt in den Raum ihren kalten Atem. Auf roten Dielen wimmeln zerdrückte Zigarettenstummel. Hier und da stehen Bierflaschen, zu Gruppen angeordnet. Ich schließe die Augen, nehme mir vor wieder einzuschlafen, doch es gelingt nicht. Ein Mahlstrom kreist hinter der Stirn. Eine schwerfälligen Rinderherde, die mal träge durchs Bild zieht, mal aufgeschreckt zum Galopp ansetzt. Die Herde zieht und ich kann sie nicht halten. Verschleppte Melodiefetzen des Abends fallen mir ein, auch der dazugehörende Text:

"der nebel wird uns sanft umhüllen
und wir werden uns verlieren
die feuchte unserer haut
und unseren atem spüren
kein geist wird unseren mund bewohnen
kein schatten unser herz
wir werden unsere schwere fühlen"

Selbst dieser gestern noch vertraut und gerngehörte Song erzeugt jetzt einen blöden Schmerz in meinem Kopf, hat einen schalen Nachklang ... bäh; obwohl ... die Mollakkorde sind schön, merke ich kurz und denke ‚Ich kann also noch angenehmes empfinden', reiße wieder die Augen auf... "Blödmann, Blödmann Klabautermann" sag ich zu mir selbst ... "halt Dein Maul, halt Dein Maul" denke ich dann, "warum nicht manchmal sein Maul halten, anstatt immer weiter machen, weiterreden, weitertrinken, was ist das?
Ich suche nach Wegen sich dramatisch aus der Welt zu schaffen: Sich mit dem Kopf auf die Schienen legen, oder ein langes sperriges Gerät in den Schlund versenken und sich die Lunge aus dem Leib ziehen oder: andere Organe gleich mit, Glas zerbeißen und runterwürgen, sich verbissen mit einem Fuchsschwanz das Schienbein ansägen, ein ... "stopp - es reicht!" rufe ich mir in Gedanken zu. Ich atme ein und aus, bemerke ein Rasseln in der Brust, ein Stechen in den Nasenhöhlen, meinen trockenen und klebrigen Mund. Auf der anderen Seite des Raumes tropft ein Wasserhahn. Ich will mir ein Glas einfüllen, dann schon wieder nicht. Von links, durch die ausgehängte Tür, glotzt mich die Schwärze des Flurs an. Aus einem Zimmer dahinter dringen dumpfe Geräusche, Fußscharren, etwas langes Dünnes, das über den Boden streift. Eine tief klingende Frauenstimme, die ein Gespräch zu führen scheint, mit jemandem per Telefon. Ich wälze mich hin und her, setze mich aufrecht, nehme mir vor aufzustehen, ein paar Wünsche und Grüße oder Grüße und Wünsche? auf einen Zettel zu schreiben und mich auf leisen Sohlen davonzuschleichen. Doch es geht nicht. Mein Kopf dreht sich, wieder kommen Melodien, Gesprächsfetzen tauchen auf und überhaupt, woher einen Zettel nehmen? Ich falle zurück aufs Sofa, wickle mich in die Decke ein, merke, dass ich noch meine Hose anhabe und meine Socken. Wo sind Schuhe, Mantel, Portemonnaie, Handy, Schlüssel?
 
Erinnere jetzt das Gespräch an der Straßenecke:
"Nein lass mich allein nach Hause gehen" ‚Aber wieso?,' "Na weil man manchmal seine Ruhe braucht, kennst du das nicht?" ‚Aber wie kannst Du das jetzt sagen? Wir haben vier Bier miteinander getrunken und jeder zwei Schnäpse dazu. Wir haben geredet und geküsst und uns schöne Dinge gesagt und nun willst Du allein sein?' "Hör mal, ich mag Dich wirklich sehr, möchte jetzt aber nicht mit Dir diskutieren."

Aus dem Zimmer hinterm Flur dringen wieder Geräusche. Diesmal erkenne ich die Stimme deutlicher. Es ist die von S. Sie lacht in den Hörer. Bloß weg hier!
Dielen knarren, die metallene Mechanik einer Türklinke quietscht. Ich halte die Luft an, kneife die Augen zusammen, stelle mich schlafend. Krachend öffnet sich die Tür. Nackte Füße auf dem glatten Boden, als gehe jemand durch kleine Pfützen. Ein Plasteriegel schiebt sich in den Türrahmen. Ein Klodeckel vibriert für einen kurzen Moment an einer harten Wand. Dann dieses seltsam klingende Zischen, der gepresste Strahl  wenn Frauen aufs Klo gehen. Die Spülung rauscht asthmatisch. Stotternd schießt Wasser aus der Dusche, mit einem dumpfen Rasseln rastet die Schiebetür der Duschkabine ein. Ich stelle mir vor, wie sie jetzt mit geschlossenen Augen den Kopf in den Nacken legt, sich das warme Wasser übers Gesicht laufen lässt, ihre Augen leicht gerötet vom Dampf des Wassers und dem Chlor darin. Ihre Wimpern, die sich zu spitzen Sternen formen. Mit beiden Händen gleichzeitig streicht sie sich womöglich das Wasser aus dem Haar. Es sind nicht meine Hände. In weichen Kaskaden läuft das warme Wasser über ihren geschwungen Rücken, zerteilt sich knapp über ihrem schönen Hintern in kleinere Flüsse, läuft in Rinnsalen an ihren Schenkeln hinab, umringelt die Beine und versickert neben ihren kleinen Füßen im silbernen Abfluss, worauf eine kleine Schaumkrone tanzt.
Eine helle Kristallspirale dreht sich ins glitschig dunkle Abflussrohr.

"Hör mal, ich mag Dich wirklich sehr, möchte jetzt aber nicht mit Dir diskutieren", wieder höre ich diesen Satz. ‚Aber wiesooo? lass mich doch bei dir bleiben, ich mach doch nichts, ich kann nur nicht alleine sein!" "Siehst Du vielleicht geht es deshalb nicht!, weil ich dich nämlich nicht deshalb mit nach Hause nehme, damit Du nicht alleine bist, sondern, weil ich Lust darauf habe". Ich stampfe mit dem Fuß, vielleicht habe ich auch gedroht, denke ich einen kurzen Moment und mich durchfährt ein garstiger Schreck.
Ich kontrolliere meine Hände auf eventuelle Kratz- oder Bisspuren, finde aber nichts Auffälliges, außer dem Dreck unter meinen Fingernägeln.

Die Plasteveriegelung rutscht zurück in die Badtür, pitsch patsch wandert S. wieder durch den Flur in ihr Zimmer, diesmal klingt es wirklich so, als liefe sie durch kleine Lachen.
Mit lautem Geräusch, das fast ein Knallen war, schließt sich die Zimmertür. Jetzt stehe ich kerzengerade auf dem ausgeklappten Sofa, halte die Hände vors Gesicht in der Art der Sizilianer, wenn sie sagen wollen, dass jemand hinter Gittern sitzt. Ich  schüttle mich. "Blödmann, Blödmann - Klabautermann" flüstere ich mir zu, gehe ans verschmierte Küchenfenster, sehe in einen fast kahlen Hof, auf ein paar langstielige Pflanzen, von Winterfeuchte zu Boden gedrückt, wie bei Aquarien, bei denen man das Wasser abgelassen hat, Fahrräder ineinandergekeilt, miteinander verwachsen und umschlungen von rostigen Ketten. Schatten huschen hinter Fenstern, welche mit Batiktüchern verhängt sind. An der Fassade gegenüber Einschusslöcher, die sich in der Art von Kletterpflanzen um ein Fenster ranken. Sehe Rotarmisten mit Käppis, Pistole am Halfter und diesen komischen Gewehren, mit rundem Magazin über dem Abzugshahn. Aus dem Fenster auf der anderen Seite hängt leblos vornüber ein alter Mann, Volkssturm, Zivilist mit grauem Mantel und Armbinde. Mir gehts auch nicht viel anders denke ich und für einen Moment will ich mit ihm tauschen.

Warum trinkt man überhaupt soviel?" interviewe ich mich wieder selbst ... "dass man auf einer Woge treibt" gebe ich mir zur Antwort ... eigentlich sollten solche Nächte die Ausnahme sein.
Mit nass und gekämmtem Haar steht S. hinter mir in der Tür, nickt erst nachdenklich, wie zur Begrüßung und schüttelt dann den Kopf. "So eine Aktion wie letzte Nacht" das war wohl nichts. Dass ich Dich heute habe hier schlafen lassen. Das war die absolute Ausnahme!!! Trink mit mir einen Kaffee und dann geh!

Ich gehe auf die Straße. Draußen ist der zweite Weihnachtstag und Wedding. Aus einem Friseursalon dudelt laut Musik. Lauer Wind, wie aus einem falsch eingestellten Fön ist es auch, der mir ins fragende Gesicht weht. Die U-Bahn riecht nach U-Bahn, nach verbranntem Gummi und festgetretenem Zuckerwasser. Ich schließe die Augen und wundere mich über die Unebenheiten. Sie fährt doch nicht über Geröll die Bahn. Gleichmäßig vergeht die Zeit von Station zu Station. Als sich orange-rot die Wandkacheln des Bahnhofs Rosenthaler Platz hinters Fenster schieben, wundere ich mich, dass ich schon da bin. Mein Fahrrad, am U-Bahnhof, steht noch unversehrt an der Stelle, wo ich es in der Nacht zuvor abgestellt hatte. Es musste jetzt Nachmittag sein. Jemand hatte hier die Zeit angehalten. Wo ich hinsehe Spaziergänger, die vorbeigehen, eher schreiten. Ab und zu langbeinige Frauen, bekleidet mit Wollmütze und Hackenschuhen, die auf Rennrädern sitzen. Eine schmale Hand schiebt alle paar Meter die Umhängetasche auf eine Stelle am Rücken, so dass sie nicht verrutschen kann.
 

"der nebel  .."

aus "warmer abend"
vom Album "zombie" (2004)
der Band Kante, Text: Peter Thiessen