lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
(03.03.2003)
 
Ulrike Draesner
 
 
Dreh Gedanken zum Gedicht
 

Vielleicht ist alles in der Welt gedreht? Atome, Moleküle, Kristalle ebenso wie Schneckenhäuser oder Zweige in ihrem Ansatz am Baum. In Spiralen wickeln sich die aus den Wirbeln kommenden Nerven zu Arm und Bein. Das Spermium dreht sich durch den Eileiter, vom Augenblick der Zeugung an wachsen wir in Symmetrien und Spins. Planeten, Sterne und Galaxien: sie drehen.

Die Stimme: Luft wird eingesogen, ausgestoßen, dringt in den Raum, baut Wellen, dreht sich an Luftschwaden hinauf, herab, nach vorn. Schraubt sich in den Raum, ins Ohr.

Die eigene Stimme: vielfach gefordert. Doch wer weiß, was das ist? Oder arbeiten wir uns auf einen Zustand der post-lyrics zu (analog zu post-gender): zu auf den Genuss des Gekreuzten, Gemischten? Denken an etwas wie transvoicing? Ein sich ablösen vom „Eigenen“ - nicht auf Fremdes hin, sondern auf etwas, das aus diesen Kategorien springt?

Gedicht: Anderem, Unerhörtem, eine Stimme geben. Es passieren lassen. Nicht einen Algorithmus finden, der „die Welt“ in Sprache übersetzt, sondern mehrere, miteinander erklingende Algorithmen. Jedes „Erlebnis“ hat sein eigenes Gesetz. Es beruht auf ihm und bringt es zugleich hervor.

Wenn die lebendige Welt Gedrehtes ist, dann wird, was später „Gedicht“ sein will, daraus übersetzt. Hilfsweise läßt sich sagen: dank eines Algorithmus. Er ist die kleine Maschine des Gedichtes, die man nicht sieht. Oder doch sieht, aber nur in ihrem Produkt - sie, die nichts als dieses Produkt ist, erfahrbar aber „in der Dichte“ des Gedichtes, in seinem Rhythmus, Klang. Als dieses „andere“ (Maschine), das die Verbindung zwischen Erlebnis, besser: Wahrgenommenem (dem „Echten“ oder Realen“) und der Sprachhervorbringung erzeugt.

Drei Akte also: Wahrnehmung, Spracherzeugung, Gedicht. Wahrnehmung, die ihrerseits Spracherzeugung erzeugt. Sie ver-ant-wortet, wie man im Deutschen sagen kann. Wahrnehmung ihrerseits geschieht „in“ jemandem. Hirn, Psyche, Seele. Der Algorithmus, der die Spracherzeugung je nach der Wahrnehmungsweise „informiert“ (im Sinn von „prägt“), sitzt also nicht nur ebenfalls in diesem „in“, sondern muß an allem, was an Wahrnehmung beteiligt ist, seinerseits beteiligt sein. Psyche, Seele, Gehirn.

Gedicht: Sprache, die sich aus der Verbindung zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmung als Teil des spezifischen Spins dieser Wahrnehmungen - ihrer Gangart, ihrer absplitternden Funken - erzeugt und erhält.

Kompliziert. Meine Güte! Muß das sein?
Anscheinend.
Anscheinend funktionieren „wir“ so. Zumindest, wenn wir uns selbst ansehen und fragen: wie machen wir, denken, fühlen wir? Weil wir auf uns selbst blicken, ergibt sich „der Dreh“. Er ist die Spur unserer Aufzeichnung bei uns selbst.

Bei Gedichten: erscheint er als Dreh (oder Spin) des sinnlichenVerarbeitungsapparates in den Sprachapparat. Er „geht über“ und informiert das Gedicht: drückt es in seine Form, die zugleich eine Nachricht ist.

Der Spin der Wahrnehmung, der sich in Sprache übersetzt, gibt dem Gedicht, was zu wissen sich (für es) lohnt.

Postlyrics beruhen auf der Dichtungstradition. Doch sie sind nicht mit ihr identisch. Etwa: spielen mit dem Gedichtanspruch der 70er Jahre (Alltagsdinge, Realismus, politische Botschaft) und kippen ihn.

Postlyrics sind „post“ in Relation zum System der Poesie: dem Staatsdichterwesen, dem Beraterdichtertum, den dichterischen (Männer)Kronen.

Lustvoll in der Rolle, die eine Zuschreibung ist - und als solche gezeigt wird.

Sie sind in etwas und zugleich außerhalb. Ihr Ziel ist eine Unmöglichkeit.

Damit die Figur einer Entstehung sichtbar wird. Als Erschriebenes.
Um als Wirklichkeit zu wirken.
Weil da ein Mensch spricht
von etwas, das stets um seine Krümmungen fließt
das sich verschattet
selbst beschattet
erhellt
nur als Figur in der Zeit entsteht: wer wir sind