Als mein Vater aufgehört hatte, an der Universität zu arbeiten fing er an,
sein Zimmer zu ordnen. Wir hörten ihn, wenn wir vormittags aufwachten, über
die Dielen laufen. Er stand früh auf. Wir setzten uns in die Küche, Florian
trank kalte Schokoladenmilch. Mein Vater kam und erklärte, er sortiere die
Vergangenheit. Was es wert sei, erinnert zu werden, müsse er sortieren.
Es haben sich da in den Jahren Schichten gebildet, sagte er, er habe das
schon gemerkt, während er noch im Betrieb gewesen sei, so nannte er es.
Alles wollen sie gleich hören, man muss es verkaufen. Und der Rest fällt
hinten runter. Man muss ja dann immer gleich raus mit den Sachen.
Er kam nicht mehr oft aus dem Zimmer heraus. Wir gewöhnten uns an die Schritte
auf den Dielen. Ohne das Geräusch wäre es gewesen, wie alleine zu Hause
sein. Wir waren nicht darauf vorbereitet, wenn er doch mit seinen Fragen
in der Küche auftauchte. Er erzählte, was er gerade gefunden hatte, er fand
die Zeitung auf dem Tisch, die wir nicht lasen, und fragte, was sie uns
in der Schule erzählten über das, was in der Zeitung stand. Er merkte nie,
dass wir dann lügen mussten. Das war normal. Wenn er sich auf ein Projekt
konzentrieren musste, hatte er keine Zeit, meine Antworten zu überprüfen.
Er musste sich konzentrieren, die Papierstapel in seinem Zimmer durchzugehen
und umzuschichten. Das war ein neues Projekt. Es waren nicht nur die Zettel
und Bücher und alte Zeitungsartikel. Alles, was neu kam, musste gleich mitsortiert
werden. Damit nicht wieder dasselbe passierte, dass sich einfach etwas anhäufte
und später sortiert werden musste. Er schnitt also die neuen Zeitungsartikel,
die wichtig waren, aus. Es raschelte aus seinem Zimmer.
Er telefonierte seltener als früher. Er durfte sich nicht ablenken lassen.
Er hatte die Dinge immer einteilen müssen, in solche, die wichtig waren,
und den Rest. Man muss sortieren, hatte er zu mir gesagt. Sortieren, wem
man glaubt, wem nicht, wem man zuhört, wem nicht, was man liest. Und so
weiter.
Florian sagte nichts, als die Stapel von zerschnittenen Zeitungen sich in
der Wohnung ausbreiteten. Auch nichts zu den Rotweinflaschen, die wir morgens
leer fanden.
Er hatte am Anfang gefragt, wie alt bist du eigentlich. Später fragte er,
kannst du dir vorstellen, in einer richtig großen Stadt zu wohnen. Und noch
später: gibt es eine Sache, die du immer machen willst. Für die du richtig
Leidenschaft empfindest.
Manchmal begegnete ich meinem Vater auf dem Weg ins Bad im Flur. Er wurde
dünner. Die Haut auf seinem Nasenrücken war bläulich. Manchmal dachte ich
den Satz "Mein Vater wird etwas seltsam", es wäre eine Art Entschuldigung
gewesen, aber ich sprach ihn nie laut aus. Es war die Konzentration, die
seine Augen weiter werden ließ und die Wangen schmaler.
Florians Vater trug eine Brille mit Metallgestell und roch immer nach Rasierwasser.
Seine Mutter hatte große erschreckte Augen und oft Kopfschmerzen. Ich hätte
mir gewünscht, meine Eltern hätten mich mehr gefördert, sagte Florian. Er
wollte lieber mich besuchen, als umgekehrt. Jedes Mal blieb er vor der Bücherwand
im Wohnzimmer stehen.
Mit Florian lag ich rücklings auf dem Schlafzimmerbett der Eltern. Er zeichnete
mit der Hand Kreise in die Luft, während er sprach. Meistens redete er und
ich schaute seine Hand an. Er sprach von den Städten, wo richtig etwas passierte.
Von wichtigen Filmen. Er war drei Jahre älter als ich, es war normal, dass
er viel mehr wichtige Filme kannte. Abends schauten wir zusammen Filme an.
Ich hatte gewusst, dass es aufhören würde.
Es hörte auf, als Florian zu den schriftlichen Prüfungen nicht zugelassen
wurde, weil er zu oft gefehlt hatte. Was hält mich denn noch hier, sagte
er. Er benutzte gern Sätze, die klangen, als habe er sie in einem Buch gelesen.
Morgen fahre ich nach Paris, sagte er. Und dann im Herbst, nach Berlin.
Es wurde Sommer. Wir lagen auf der Wiese. Er streichelte meinen Bauch. Ich
dachte nicht darüber nach, ob er es ernst meinte. Gibt es eigentlich gar
nichts, fragte er, schon wieder, für das du richtig brennst. Eine Sache,
die dir so wichtig ist, dass du darüber Essen und Schlafen vergisst. Wo
du denkst, das will ich immer und immer machen und nichts anderes.
Ich wusste die Antwort nicht.
Da hatte mein Vater schon mit den Listen angefangen. Er schrieb sich Namen
auf, von den Leuten, die er gekannt hatte. Daneben Jahreszahlen. Wenn er
in Eile war, musste er es auf ein Stück Zeitung schreiben. Er schrieb sich
Florians Namen auf.
Nach einer Weile hörte er auf, jeden Tag zu fragen, kommt der Junge heute
nicht mehr. Der Name war auf einer Liste.
Es wurde wärmer und er stand noch früher auf. Ich hörte seine Schritte und
blieb liegen. Er fing an, sich Worte auf Listen zu schreiben. Er hatte immer
schon Listen geschrieben, über denen stand. Zu erledigen und dann eine Reihe
von Anrufen. Jetzt rief er niemanden an. Nur noch, wenn es ihm einfiel,
meine Mutter. Auf den neuen Listen standen Worte……………. Er versuchte sie
zu verstecken, jedenfalls wurde er wurde böse, wenn ich eine Liste in der
Hand hatte. Dabei sagte ich nichts dazu.
Er wurde unberechenbarer, auf eine andere Art als früher. Früher war er
nie anders als mit ausgebreiteten Armen auf Gruppen zugelaufen, er erzählte
gern Geschichten, oft fingen sie mit einer Jahreszahl an: Neunundsechzig,
sagte er und dann einen Namen oder eine Stadt, in der er gewesen war. Es
gab ein paar Dinge, über die er sehr viel wusste. Wenn jemand ihm nicht
glaubte, eine andere Meinung hatte als er, redete er lange auf ihn ein und
bewegte die Arme dabei, sein Gesicht hörte nie auf zu lächeln. Manchmal
lachte er lauter, als andere erwartet hätten. Jetzt war er leise geworden.
Die Sätze liefen nicht mehr aus seinem Mund, weil es Worte gab, die er umkreisen
musste. Es machte ihn sanfter.
Wenn Freunde von ihm anriefen, ging ich ans Telefon und sagte, er hat zu
tun.
Ich langweilte mich den ganzen Sommer lang, es war ein schönes Gefühl. Ich
fuhr ins Schwimmbad und setzte mich mit Sonnenbrille auf die Wiese. Das
Hemd mit den langen Ärmeln zog ich nie aus, ins Wasser wollte ich nicht,
nur dort sein und mir die Körper der anderen anschauen. In einer Eisdiele
in der Fußgängerzone steckte ich Kugeln in Waffelspitzen und bekam Muskeln
nur im rechten Arm. Ich hatte Geburtstag und kaufte mir von dem Eisdielengeld
einen Schädel auf dem Flohmarkt. Er war nicht besonders teuer, aber ich
hielt ihn für echt. Zwischen den Händen trug ich ihn nach Hause, er war
schwerer, als ich gedacht hatte. Ich stellte ihn auf den Tisch in meinem
Zimmer und streichelte über die Schädeldecke. Ich mochte das Glatte unter
meinen Fingern.
Mein Vater sagte nichts zu meinem Geburtstag. Was ist mit deinem Vater los,
fragte meine Mutter am Telefon, er hört sich kraftlos an, sagte sie, trinkt
er viel. Er muss sich konzentrieren, sagte ich ihr. Es war schon vier Jahre
her, dass sie auf der Meditationsfarm auf Gomera einfach geblieben war.
Davor hatte sie aufgehört, Wein zu trinken, und statt dessen jeden Morgen
einen Löffel Kristallsalz gegessen. Es geht mir besser damit, sagte sie
zu allen, sie trank auch sehr viel Tee. Die Tees hatten Namen wie Balance
oder Luna. Ich musste auch jeden Morgen einen Löffel Salz nehmen. Jeden
Morgen wurde mir übel, aber sie brachte mir bei, dass einem nur übel wird,
wenn man innerlich nicht im Gleichgewicht ist. Das Salz reinigt, sagte sie.
Man muss sich innerlich reinigen. Ich lernte, ganz leise zu kotzen. Sie
nahm das Salz nicht mit, als sie ging. Es stand immer noch auf der Küchenfensterbank.
Geht es dir gut, fragte sie an meinem Geburtstag, warum kommst du mich nicht
besuchen, du hast doch Ferien. Ich sagte, dass es mir zu warm sein würde.
Was ist los, fragte mein Vater, vier Jahre später, wenn er einen Telefonhörer
in die Hand nehmen sollte. Mit einem Mal wurde sein Gesicht wieder wach
und weit, wie sonst, wenn er etwas fragte und es wirklich verstehen wollte
und einem seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Nur dass es ihn diesmal zu
erschrecken schien. Weil er. Früher hatte er seine Meinung schon gehabt.
Was ist los. Er streckte langsam eine Hand nach dem Hörer aus.
Ich sah, dass er sich wirklich konzentrieren musste. Ich konnte verstehen,
dass er abends müde war, wenn er abends vor sich hinsprach und die Lücken
in seinen Sätzen sich ausweiteten, weil er nicht immer alle Listen zur Hand
hatte, auf denen die fehlenden Worte standen.
Ich überlegte, ob er doch krank wurde. Mir fehlt nichts, sagte er.
Als es länger dämmerte, wurden die Lücken in seinem Sprechen größer. Seine
Sätze lösten sich langsam auf. |