lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
 
Nina Lucia Bussmann
 
 
literaturlabor 15.02.2004
 
Sommer
 
Als mein Vater aufgehört hatte, an der Universität zu arbeiten fing er an, sein Zimmer zu ordnen. Wir hörten ihn, wenn wir vormittags aufwachten, über die Dielen laufen. Er stand früh auf. Wir setzten uns in die Küche, Florian trank kalte Schokoladenmilch. Mein Vater kam und erklärte, er sortiere die Vergangenheit. Was es wert sei, erinnert zu werden, müsse er sortieren. Es haben sich da in den Jahren Schichten gebildet, sagte er, er habe das schon gemerkt, während er noch im Betrieb gewesen sei, so nannte er es. Alles wollen sie gleich hören, man muss es verkaufen. Und der Rest fällt hinten runter. Man muss ja dann immer gleich raus mit den Sachen.

Er kam nicht mehr oft aus dem Zimmer heraus. Wir gewöhnten uns an die Schritte auf den Dielen. Ohne das Geräusch wäre es gewesen, wie alleine zu Hause sein. Wir waren nicht darauf vorbereitet, wenn er doch mit seinen Fragen in der Küche auftauchte. Er erzählte, was er gerade gefunden hatte, er fand die Zeitung auf dem Tisch, die wir nicht lasen, und fragte, was sie uns in der Schule erzählten über das, was in der Zeitung stand. Er merkte nie, dass wir dann lügen mussten. Das war normal. Wenn er sich auf ein Projekt konzentrieren musste, hatte er keine Zeit, meine Antworten zu überprüfen.

Er musste sich konzentrieren, die Papierstapel in seinem Zimmer durchzugehen und umzuschichten. Das war ein neues Projekt. Es waren nicht nur die Zettel und Bücher und alte Zeitungsartikel. Alles, was neu kam, musste gleich mitsortiert werden. Damit nicht wieder dasselbe passierte, dass sich einfach etwas anhäufte und später sortiert werden musste. Er schnitt also die neuen Zeitungsartikel, die wichtig waren, aus. Es raschelte aus seinem Zimmer.

Er telefonierte seltener als früher. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Er hatte die Dinge immer einteilen müssen, in solche, die wichtig waren, und den Rest. Man muss sortieren, hatte er zu mir gesagt. Sortieren, wem man glaubt, wem nicht, wem man zuhört, wem nicht, was man liest. Und so weiter.

Florian sagte nichts, als die Stapel von zerschnittenen Zeitungen sich in der Wohnung ausbreiteten. Auch nichts zu den Rotweinflaschen, die wir morgens leer fanden.

Er hatte am Anfang gefragt, wie alt bist du eigentlich. Später fragte er, kannst du dir vorstellen, in einer richtig großen Stadt zu wohnen. Und noch später: gibt es eine Sache, die du immer machen willst. Für die du richtig Leidenschaft empfindest.

Manchmal begegnete ich meinem Vater auf dem Weg ins Bad im Flur. Er wurde dünner. Die Haut auf seinem Nasenrücken war bläulich. Manchmal dachte ich den Satz "Mein Vater wird etwas seltsam", es wäre eine Art Entschuldigung gewesen, aber ich sprach ihn nie laut aus. Es war die Konzentration, die seine Augen weiter werden ließ und die Wangen schmaler.

Florians Vater trug eine Brille mit Metallgestell und roch immer nach Rasierwasser. Seine Mutter hatte große erschreckte Augen und oft Kopfschmerzen. Ich hätte mir gewünscht, meine Eltern hätten mich mehr gefördert, sagte Florian. Er wollte lieber mich besuchen, als umgekehrt. Jedes Mal blieb er vor der Bücherwand im Wohnzimmer stehen.

Mit Florian lag ich rücklings auf dem Schlafzimmerbett der Eltern. Er zeichnete mit der Hand Kreise in die Luft, während er sprach. Meistens redete er und ich schaute seine Hand an. Er sprach von den Städten, wo richtig etwas passierte. Von wichtigen Filmen. Er war drei Jahre älter als ich, es war normal, dass er viel mehr wichtige Filme kannte. Abends schauten wir zusammen Filme an.
Ich hatte gewusst, dass es aufhören würde.

Es hörte auf, als Florian zu den schriftlichen Prüfungen nicht zugelassen wurde, weil er zu oft gefehlt hatte. Was hält mich denn noch hier, sagte er. Er benutzte gern Sätze, die klangen, als habe er sie in einem Buch gelesen. Morgen fahre ich nach Paris, sagte er. Und dann im Herbst, nach Berlin. Es wurde Sommer. Wir lagen auf der Wiese. Er streichelte meinen Bauch. Ich dachte nicht darüber nach, ob er es ernst meinte. Gibt es eigentlich gar nichts, fragte er, schon wieder, für das du richtig brennst. Eine Sache, die dir so wichtig ist, dass du darüber Essen und Schlafen vergisst. Wo du denkst, das will ich immer und immer machen und nichts anderes.

Ich wusste die Antwort nicht.

Da hatte mein Vater schon mit den Listen angefangen. Er schrieb sich Namen auf, von den Leuten, die er gekannt hatte. Daneben Jahreszahlen. Wenn er in Eile war, musste er es auf ein Stück Zeitung schreiben. Er schrieb sich Florians Namen auf.

Nach einer Weile hörte er auf, jeden Tag zu fragen, kommt der Junge heute nicht mehr. Der Name war auf einer Liste.

Es wurde wärmer und er stand noch früher auf. Ich hörte seine Schritte und blieb liegen. Er fing an, sich Worte auf Listen zu schreiben. Er hatte immer schon Listen geschrieben, über denen stand. Zu erledigen und dann eine Reihe von Anrufen. Jetzt rief er niemanden an. Nur noch, wenn es ihm einfiel, meine Mutter. Auf den neuen Listen standen Worte……………. Er versuchte sie zu verstecken, jedenfalls wurde er wurde böse, wenn ich eine Liste in der Hand hatte. Dabei sagte ich nichts dazu.

Er wurde unberechenbarer, auf eine andere Art als früher. Früher war er nie anders als mit ausgebreiteten Armen auf Gruppen zugelaufen, er erzählte gern Geschichten, oft fingen sie mit einer Jahreszahl an: Neunundsechzig, sagte er und dann einen Namen oder eine Stadt, in der er gewesen war. Es gab ein paar Dinge, über die er sehr viel wusste. Wenn jemand ihm nicht glaubte, eine andere Meinung hatte als er, redete er lange auf ihn ein und bewegte die Arme dabei, sein Gesicht hörte nie auf zu lächeln. Manchmal lachte er lauter, als andere erwartet hätten. Jetzt war er leise geworden. Die Sätze liefen nicht mehr aus seinem Mund, weil es Worte gab, die er umkreisen musste. Es machte ihn sanfter.

Wenn Freunde von ihm anriefen, ging ich ans Telefon und sagte, er hat zu tun.


Ich langweilte mich den ganzen Sommer lang, es war ein schönes Gefühl. Ich fuhr ins Schwimmbad und setzte mich mit Sonnenbrille auf die Wiese. Das Hemd mit den langen Ärmeln zog ich nie aus, ins Wasser wollte ich nicht, nur dort sein und mir die Körper der anderen anschauen. In einer Eisdiele in der Fußgängerzone steckte ich Kugeln in Waffelspitzen und bekam Muskeln nur im rechten Arm. Ich hatte Geburtstag und kaufte mir von dem Eisdielengeld einen Schädel auf dem Flohmarkt. Er war nicht besonders teuer, aber ich hielt ihn für echt. Zwischen den Händen trug ich ihn nach Hause, er war schwerer, als ich gedacht hatte. Ich stellte ihn auf den Tisch in meinem Zimmer und streichelte über die Schädeldecke. Ich mochte das Glatte unter meinen Fingern.

Mein Vater sagte nichts zu meinem Geburtstag. Was ist mit deinem Vater los, fragte meine Mutter am Telefon, er hört sich kraftlos an, sagte sie, trinkt er viel. Er muss sich konzentrieren, sagte ich ihr. Es war schon vier Jahre her, dass sie auf der Meditationsfarm auf Gomera einfach geblieben war. Davor hatte sie aufgehört, Wein zu trinken, und statt dessen jeden Morgen einen Löffel Kristallsalz gegessen. Es geht mir besser damit, sagte sie zu allen, sie trank auch sehr viel Tee. Die Tees hatten Namen wie Balance oder Luna. Ich musste auch jeden Morgen einen Löffel Salz nehmen. Jeden Morgen wurde mir übel, aber sie brachte mir bei, dass einem nur übel wird, wenn man innerlich nicht im Gleichgewicht ist. Das Salz reinigt, sagte sie. Man muss sich innerlich reinigen. Ich lernte, ganz leise zu kotzen. Sie nahm das Salz nicht mit, als sie ging. Es stand immer noch auf der Küchenfensterbank. Geht es dir gut, fragte sie an meinem Geburtstag, warum kommst du mich nicht besuchen, du hast doch Ferien. Ich sagte, dass es mir zu warm sein würde.

Was ist los, fragte mein Vater, vier Jahre später, wenn er einen Telefonhörer in die Hand nehmen sollte. Mit einem Mal wurde sein Gesicht wieder wach und weit, wie sonst, wenn er etwas fragte und es wirklich verstehen wollte und einem seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Nur dass es ihn diesmal zu erschrecken schien. Weil er. Früher hatte er seine Meinung schon gehabt. Was ist los. Er streckte langsam eine Hand nach dem Hörer aus.

Ich sah, dass er sich wirklich konzentrieren musste. Ich konnte verstehen, dass er abends müde war, wenn er abends vor sich hinsprach und die Lücken in seinen Sätzen sich ausweiteten, weil er nicht immer alle Listen zur Hand hatte, auf denen die fehlenden Worte standen.
Ich überlegte, ob er doch krank wurde. Mir fehlt nichts, sagte er.
Als es länger dämmerte, wurden die Lücken in seinem Sprechen größer. Seine Sätze lösten sich langsam auf.