lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
2011
 
Nik Afanasjew
 
literaturlabor am 20.02.2011
 
Individualisten-Zoo
 

Dr. Gustav Wilhelm war nie ein Mann der exakten Wissenschaften gewesen. Er verstand auch wenig von Philosophie und Literatur. Zeit seines bedauerlich monotonen Lebens musste er Häme über sein kahles Haupt ergehen lassen, weil er einmal bei einem Familienfest in Wittenberg kritisch nachgefragt hatte, was genau dieser Martin Luther so tolles geleistet habe als deutscher Kaiser, dass man jetzt Städte nach ihm benennen musste.
Wenn Gustav Wilhelm jemandem zum ersten Mal die Hand gab, bestand er darauf, als Dr. Gustav Wilhelm angesprochen zu werden. Die meisten Besucher des Hagenbecks Tierparks schauten irritiert auf den untersetzten Mann, wenn er mit seinem langen Besen den Elefantenkot gemächlich bei Seite schob und dann ausführte, dass der Titel wichtig sei für ihn als Persönlichkeit. Die anderen Angestellten des berühmten Hamburger Zoos kannten seine Marotten und beachteten ihn nicht weiter. Niemand wusste so genau, wie Gustav Wilhelm an den Doktortitel gekommen war und viele sprachen ihm das Vorhandensein einer Persönlichkeit ohnehin ab – aber nur hinter seinem Rücken. Es gab keinen Grund, den stets transpirierenden Mann zu hinterfragen. Man kannte Gustav Wilhelm und – nun ja – man hatte ihm verziehen.
Einmal vertraute sich der Doktor nach seinem rituellen 20 Uhr-Korn einem rumänischen Leiharbeiter an und erzählte ihm, wie er zu den zwei Buchstaben und dem Punkt auf seiner Türklingel gekommen war. Anfang der neunziger Jahre war Gustav Wilhelm in den ganz wilden Osten, nach Russland, gereist und hatte dort in einem Supermarkt eingekauft. Ein Kilogramm Gurken, zwei Flaschen Vodka und einen Doktortitel in Atomphysik hatte er damals für nicht einmal 100 Dollar ergattert. Es war eine unglaubliche Zeit, sagte er seinem staunenden Zuhörer. Für das gleiche Geld hätte er auch eine Prostituierte und einen Auftragskiller eine ganze Nacht lang zu seiner freien Verfügung haben können, aber er entschied sich für die seltsame Urkunde, obwohl sein Vorname dort falsch geschrieben war. Er sei eben ein Mann des Wissens, fügte Gustav Wilhelm hinzu und der Rumäne nickte ganz anerkennend. Als Gustav Wilhelm den Supermarkt verließ, berichtete er der Kassiererin mit den Lockenwicklern im Haar von seinen neuen akademischen Würden. Sie sagte: „Job tvoju matj suka, poshel nahuj.“ Er glaubte fest daran, dass sie ihn aufrichtig beglückwünscht hatte und machte sich mit einem Lächeln und den Gurken im Gepäck zurück in den Westen.
Das Arbeiten bei Hagenbecks füllte Gustav Wilhelm schon lange nicht mehr aus. Zu Beginn seiner Tätigkeit, als Karriere kann man diese nun wirklich nicht bezeichnen, erstaunte er alle Tierliebhaber noch mit einer unglaublichen Verbindung zu seinen Schützlingen. Er kratzte die Affen, er bürstete die Pferde und er schwamm sogar nachts mit Delphinen, bis sein Chef das spitz kriegte und Gustav Wilhelm die einzige Abmahnung seines ansonsten vorbildlich gehorsamen Arbeitslebens verpasste.
Doch etwas stimmte nicht mehr. Die Arbeit bei Hagenbecks löste bei Gustav Wilhelm einfach keine Freude mehr aus. Das erzählte Gustav seinem Freund Heinz Lötke. Der 92-Jährige Lötke war ein Charmeur eines ganz alten, faschistischen Schlages, den jeder so lange als weise und altindustriell bewunderte, bis er mit seinen Hasstiraden gegen „Zigeuner“ und „Schlitzaugen“ loslegte. Dabei stand er zumeist am Vogel-Gehege und beendete seine Ausführungen damit, dass er sich mit wehmütigem Blick an die „goldenen 40er Jahre“ erinnerte. Damals brachte Lötke für das Reichsluftfahrtministerium eine Zeitschrift mit dem Titel „Der Adler“ heraus – heute blieben ihm nur noch die Vögel.
„Früher hatten wir Völkerschauen hier, mit richtigen Negern“, schrie der fast taubstumme Lötke Gustav Wilhelm ins Ohr, der sich peinlich berührt zu einer Familie wegdrehte und entschuldigend die Schultern hob. Doch mehr noch als an politische Korrektheit und große Vögel dachte Gustav an das magische Wort, welches ihn sofort gepackt hatte: Völkerschau.
Das ist es! dachte sich Gustav und konnte das Ende seiner Schicht kaum abwarten. Er ging in dieses fensterreiche, graue Gebäude, das er als Bibliothek kannte, aber noch nie in seinem Leben betreten hatte. Zwar reichte seine Aufmerksamkeitsspanne nur zum Beschauen der Einbände und zum Durchblättern der ersten Seiten, doch das reichte vollkommen aus. Der detailreiche Blick versaut ohnehin nur den grobschlächtigen Enthusiasmus.
Völkerschauen gab es schon bei den Römern, was Gustav Wilhelm nicht weiter verwunderte, wusste er doch schon seit jeher, dass die gesamte moderne Geschichte nur ein Abklatsch römischer, altgriechischer und ägyptischer Heldentaten war. In der Neuzeit war es vor allem ein Mann mit weiter Stirn und weißem Bart, der fremde Kulturen um die vorletzte Jahrhundertwende herum gewinnbringend zur Schau gestellt hatte: Carl Hagenbeck.
Gustavs so lange untätiges Gehirn arbeitete wie verrückt. Er war förmlich berauscht von der agilen Aktivität des eigenen Kopfes, dem es sonst so kläglich an Arbeit mangelte. Natürlich wurde Gustav schnell klar, dass Eingeborene, die man in ihrer zeitlosen Dörflichkeit vor einer ethnografischen Kulisse herumsitzen lässt, im Zeitalter von Billigflügen und Satelliten-TV niemanden interessierten. Außerdem war ihm trotz seiner einfachen Denkstrukturen bewusst, wie wenig solch menschenfeindliche Aufführungen von der heutigen Mehrheitsgesellschaft akzeptiert werden würden. Es musste etwas Frisches her.
Von Heinz Lötke hatte Gustav gelernt, dass Geschichte sich unweigerlich wiederholt. Außerdem hatte er sich sagen lassen, dass alle Dinge sich ausnahmslos in ihr Gegenteil umwandelten, wenn man ihnen nur die Zeit dazu ließ. Er verstand beide Aussagen nur bedingt, aber das tat seinem neu erwachten Aktionismus keinerlei Abbruch. Völkerschauen würden unweigerlich wiederkommen, nur müssten die Exponate an das neue Publikum, an den Menschen aus dem 21. Jahrhundert angepasst werden.
In den nächsten Wochen dachte Gustav Wilhelm lange nach, was bei ihm aus Mangel an Übung Migräne und Schwermut auslöste. Seine Rettung kam in Form seines gerade volljährig gewordenen Neffen Kevin. Dieser schaute alle paar Wochen bei seinem vertrottelten Onkel vorbei, um ihn anzupumpen und gemeinsam Korn zu trinken.
Kevin war so etwas wie Gustavs Kontaktmann zur Jugendhaftigkeit. Er beeindruckte seinen Onkel immer mit seinem individuellen Kleidungsstil, seinem präpostmateriellen Gehabe und seinem seltsamen Sprachduktus. Kevin trug gelbe Moonboots, weiße Schals in Kombination mit braunen Tweed-Jackets und manchmal sogar Leggins. Er hörte Brit-Pop, rauchte Zigaretten ohne Filter und gestaltete dabei die Packungen selbst. Kevin entwarf Aufkleber, die er ungefragt, aber mit wachsender Begeisterung auf Litfaßsäulen klebte. Er war gegen alles – aber trotzdem gegen Ignoranz. Kevin schockte die gesamte Familie bei den Weihnachtsfesten mit seinen Ansichten zu modernen On-and-Off-Beziehungen, hatte statt eines Fahrrads ein Longboard und gebrauchte seltsame, der Lebensrealität des Durchschnittsbürgers entrückte Ausdrücke. Seinen Onkel nannte er „Doktor Vollhorst“ oder betitelte ihn als „Festnetztelefonierer“, was dieser wohlwollend als Lob interpretierte.
Doch wie auch seine Freunde, die alle in so genannten Szenevierteln zu wohnen schienen, hatte Kevin ständig Geldsorgen. Mit Verwunderung musste Gustav Wilhelm feststellen, dass Kevin aus seinem unglaublichen Individualismus keinen finanziellen Profit schlagen konnte. Nun war ihm klar, wie seine Völkerschauen auszusehen haben.
Gustav lieh sich Geld von Heinz Lötke, der mehr als bereitwillig seine Konten plünderte, nachdem er von einer Neuauflage der Völkerschauen unterrichtet wurde. Da er nicht mehr richtig hörte, glaubte er an ein Wiederkommen der guten, alten Zeit. So wie damals werde es werden, hatte ihm Gustav eingetrichtert.
Völkerschau: Stadtfreaks, Lebenskünstler, Individualisten.
Präsentiert von Dr. Gustav Wilhelm.

So einfach und werbewirksam strahlte es bald von Plakaten in der ganzen Stadt. Und die Menschen kamen. Als hätten alle Dachdecker aus Delmenhorst und Metzger aus Mölln nur darauf gewartet, strömten sie zur Eröffnung. In einer stillgelegten Fabrikhalle, wo die Luft stickig und das Licht trüb war, versammelte Gustav Wilhelm die modernen Eingeborenen in ihren Ray Ban-Sonnenbrillen und selbstgemachten T-Shirts.
Kritiker bemängelten, dass die hier Ausgestellten kein Volk sondern ein soziales Milieu repräsentierten und außerdem nichts weiter machten, als cool rumzuhängen und ohne Talent musikalische Experimente zu veranstalten, aber das war Gustav Wilhelm egal. Es gibt doch immer Leute, die sich Kritiker nennen und dann alles schlecht reden, was die anderen machen, nur weil sie selbst nichts hinkriegen.
Die Freaks waren begeistert, weil sie endlich einfach für ihre Außergewöhnlichkeit bezahlt wurden, ohne sich dafür erniedrigenden Fernseh-Castings stellen zu müssen. Endlich konnten sie Geld verdienen mit dem was sie waren, nicht mit dem, was sie taten. Ein Althippie, der mit heißerer Stimme Geschichten aus Indien erzählte und einen unendlich langen Haarteppich auf seinem Kopf kultivierte, avancierte zum ersten Star des Ensambles. Er konnte aus einem Zopf eine Eigenhaar-Kasatschok-Mütze flechten, was vor allem die Besucher aus der früheren Sowjetunion begeisterte. Die Asiaten konnten sich mehr für die zahlreichen Perversen begeistern, die wahlweise Fische, Küchengeräte oder leere Augenhöhlen penetrierten. Die Zahl der Künstler wuchs schnell, ebenso wie die Zahl der Besucher und die Akzeptanz der neuen Völkerschau. Mit der Zeit gingen die Einheimischen nicht mehr hin, stattdessen kamen Gäste aus aller Welt.
Jahre vergingen, Heintz Lötke starb und Dr. Gustav Wilhelm wurde reich und fett. Niemanden überraschte es mehr, als zum ersten Mal eine ganze Stadt als Völkerschau-Bühne auserkoren und mit einem riesigen Stadion umzäunt wurde. Natürlich bekam der umtriebige Gustav Wilhem Konkurrenz aus ganz Europa, aber das war kein Problem: es waren genug Freaks und genug Zuschauer für alle da.
Die unterschiedlichen Völkerschauen wurden differenzierter, komplizierter und nahmen mehr und mehr Fläche in Europa ein. Als Vorsitzender des Verbandes der Völkerschau-Macher war es schließlich Dr. Gustav Wilhelm vorbehalten, den finalen Vorschlag für das veraltete, degenerierte und nicht mehr konkurrenzfähige Europa zu machen. Gegenstimmen gab es wohl, allein die Zahl der Individualisten war so groß, dass alle Menschen diesen Vorschlag als vernünftig akzeptieren mussten: ganz Europa als riesige Völkerschau für den Rest der Welt.
Ein großes Museum mit alter Architektur und individuellen Menschen, die sich nicht dem technokratischen Einheitsbrei aus Los Angeles, Tokio und Singapur unterwerfen wollten. Als dann die Kuppel um Kontinental-Europa gebaut und die ersten Logenplätze vermietet wurden, sah sich Dr. Gustav Wilhelm am Ziel. Sich mit einem Taschentuch den fettigen Schweiß von der Stirn wischend begrüßte er persönlich den 100. Besucher des Menschenzoos Europa. „Diesen armen Kreaturen“, sagte der Mann aus Namibia beim Blick auf die unter ihm wuselnden Europäer, „das haben sie wirklich nicht verdient.“