kommentar / kritik 2009

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Ann Cotton°°°
Anmerkungen zum Stand der politischen Lyrik 2009
Jinn Pogy°°°
Zur Lesung zum „lauter niemand preis für politische lyrik“ am 21.10.2009
Clemens Kuhnert°°°
Die Fragen zur Diskussion mit Jury und Publikum am 21.10.2009
Detlef Kuhlbrodt°°°
Politik zur Hälfte gereimt; Preis für politische Lyrik (taz.de°°°/ 22.10.09 )
 
 
Ann Cotton
Anmerkung zum Stand der politischen Lyrik 2009
Wer heute daran geht, ein politisches Gedicht zu verfassen, stößt noch vor allen Fronten auf seinen Hauptfeind: die politisch korrekte Sprache.

Ich meine nicht, dass man Worte wie “Korinthenkacker” braucht, um ein brauchbares Gedicht zu schreiben, sondern, dass die ganze Sprache darauf aus ist, ungestraft davonzukommen. Da haben sich die Schichten gut vermischt: Jeder hat ein bisschen zu verlieren und viel zu gewinnen, wenn er nur besser dasteht als der nächste. Erlaubt ist alles, außer die Unschuld eines Mitmenschen anzugreifen, der bei seinen Gemeinheiten, Unerbittlichkeiten oder Kleinlichkeiten das Gesetz befolgt. Verboten ist etwa der Gedanke an Enteignung. Das beschränkt natürlich ein werdendes politisches Gedicht ungemein.

Geht man in eine Cafeteria der Universität, ist festzustellen, dass man etwas panisch von Strategien spricht, im Leben fortzukommen, mit einigen verlegenen Schnörkeln, die zeigen, dass die Leute kein Nazi sind. Auf der Technischen Universität findet sich noch ein soliderer Schlag, aber die schreiben weniger Gedichte. Und eine Psychologie ist eingezogen wie ein Hochbett, die funktioniert als katholischer Baukasten, wer leidet, wird durch die Mangel der Beichte in amputierter Sprache kuriert und mit einer Kompensationserklärung aus dem Gespräch entlassen.

Im Namen des "Genau,-” , des “Genau,-” und des heiligen “Genau,-”

Denn niemand ist heute ein Nazi. Das sind xenophobe Klumpfüßenprovokateure und ein paar Logenkarrieristen. Es gibt auch keine Kommunisten. Alle bescheidenen und friedfertigen Leute sind – wer möchte schon wirklich im Status eines Outlaws leben – Verfassungskonformisten. Und das ist keine Grundlage für eine Haltung, und es verstümmelt das Sprechen.

Um klar zu sprechen: Wer unabhängig von ihrem Bestehen für die Verfassung ist, ist ein Ideologe, ein denkender Mensch, vielleicht – ich lasse mich gern täuschen – ein Künstler der Ausrede. Wer sie für besser als nichts hält, doch an etwas anderem arbeitet, ist eine Praktikerin, der zumindest prinzipiell nichts im Wege steht, frei zu denken, also Denken und Handeln zu verbinden - wenn auch nur, um zu gestehen, dass ihr nichts einfällt, was erlaubt wäre, um einen Protest einzureichen. Also mit der Zeit mehr Wartende als Praktikerin. Davon gibt es sehr viele, und es ist nicht gerade eine schöne Blüte der Menschheit, was so seit Jahrzehnten auf Futons herumgammelt und sich kiffend das Hirn zermartert, wie man eine Revolution beginnen könnte mit den Resten der Acrylfarbe im Keller. Wer aber für die Verfassung ist, weil sie unter Androhung von Strafen verlangt, dass man für sie ist, und die Strafandrohung selbst gutheißt, weil sie das beheizte Zimmer schützt, in dem man sitzt und seinen Kaffee verdient und die Verfassung gutheißt, das ist ein Konformist, im Vorteilnehmen unbehindert und insofern in seinem Denken behindert, dafür.

(Ich, übrigens, als Dichterin, trinke Kaffee und betrachte meine Behinderungen, daher weiß ich das alles. Ich möchte kein Lob für die Tätigkeit des Hinterfragens sehen, weder bei mir noch bei anderen. Hinterfragen ist so selbstverständlich wie das Saugen von Muttermilch, so selbstverständlich, dass man im Bereich des Hinterfragens zwischen nützlichen Überlegungen und bloßer Zeitschinderei unterscheiden kann. Gerade bei sich selbst kann man das sehr gut.)

Als Verfassungskonformist kann man, möchte ich behaupten, keine Gedichte schreiben. Keine vollkommenen. Denn wer in der Wirklichkeit für ein System ist, weil es verboten ist, gegen es zu sein, stellt, wenn er bei seiner Sprache das Rückgrat zu pflegen beginnt, das ihm in der Politik nicht erlaubt ist, die Sprache über die Wirklichkeit, ohne ihr aber die geringste Macht zuzurechnen. Er pflegt eine Konstellation, die verhindert, dass sich Gedanken und Sprache zu einem Rammbock formieren. Er verwendet die Sprache, um sich herauszureden. Dies kreide ich aber der, wie nennt man das, Lobby dieses Systems an, das nicht wagt, zu erlauben, dass man mit einem vollständig ausgedehnten Rückgrat entscheide, ob es tatsächlich die einzige Form richtiger Demokratie ist, sich den Interessen von Banken und Konzernen zu unterwerfen.

Nun ist es nicht unbedingt eine Pflicht des Menschen an sich, sich um seine Regierung zu kümmern. Seit jeher haben sich wenige dafür interessiert, solange es ihnen zu gut ging, um die Verzweiflung, oder zu elend, um die Zuversicht zu einer Revolte aufzubringen. Es mussten besondere Umstände zusammentreffen, eine ausreichende Unzufriedenheit, empfundene Ungerechtigkeit und eine Idee, zu der sich eine Machtmasse einigen kann. Dafür gibt es keine Regeln. Und insbesondere das Entwickeln von Literatur geht eigentlich schlecht mit dem Entwickeln von politischen, also praktischen Lösungen für die Organisation des Zusammenlebens von Menschen zusammen. Es ist nicht viel mehr als ein Weg zu schlechter Lyrik und schlechter Politik, von der Literatur zu fordern, sie soll politisch sein. Das Eingeständnis wiederum, alle Literatur sei irgendwie politisch, bettet unsere beiden Sorgenkinder fern von einander auf madigen Matratzen. Wenn die beiden Künste ein paar Anforderungen gemeinsam haben – etwa Genauigkeit, Umsicht, ein Gefühl für Timing – so unterscheidet sie doch ganz wesentlich, dass die Politik virtuos im Kompromiss sein muss, während sich die Literatur unbedingt von ihm fernhalten muss.

(Und doch muss die Literatur ja wissen, dass sie am Schreibtisch geschrieben wird, oder in einer ruhigen Ecke des Einkaufszentrums zwischen den Runden der Sicherheitskräfte, also dass es Kompromisse sind, die der Verfasserin den Rücken freihalten. Die Literatur ist also liebevoll zum Freund und zum Feind. Denn sie darf keine Kompromisse machen.)

Sofern Politik mit Sprache zu tun hat, könnte der Einfluss der Literatur - als geschickter, magischer Umgang mit Worten, Gedanken und Menschen - auf die Politik hilfreich sein. Und insofern als man am eigenen Stil merkt, wie man gelernt hat, jedem Gedanken auszuweichen, der ins Niemandsland führt, wo man für erschossen werden kann, ist es tatsächlich nicht möglich, unpolitisch zu sein und zu denken. Doch das hat mehr mit den Schwierigkeiten als mit den Resultaten des Schreibens zu tun, die vielleicht nur ebenso viele Arten des Ausweichens vor peinlichen Fragen darstellen, dies aber irgendwie gleichermaßen in Bezug auf die Metaphysik wie in Bezug auf den Mitmenschen und auf die technischen Details der Welt. Die Deutschen bevorzugen von den dreien übrigens traditionell ersteres und letzteres, daher wohl auch immer das Bestreben, den Mitmenschen durch Lyrik superciliös zu betrachten und technisch zu bewältigen.

Streng betrachtet hat uns also, wie angedeutet, kein einziges vollendetes politisches Lyrikum erreicht, womöglich, weil es so etwas nicht gibt. Stattdessen 691 Zeugnisse des Unvermögens. Und wir drei oder vier von der Jury haben die Hingabe, die wir vielleicht lieber unserem eigenen Unvermögen hätten zugedeihen lassen sollen, auf das wir wirklich wirken könnten, der Betrachtung und Einschätzung dieser Artefakte gewidmet. Was soll der Unfug?

Nun hielt ich mich – eine junge Frau, die, wie ich weiß, nicht imstande ist, regelmäßig die Zeitungen zu lesen – nicht unbedingt für die geeigneteste Jurorin für diese Ausschreibung des besten politischen Gedichts der letzten 3 Jahre. Wenn man hinwiederum annimmt, diese Arbeit könnte eventuell jeder mit Fug verrichten, den man auf der Straße einfängt und dazu verdonnert, sofern er nur die Sprache versteht; wenn man von der Annahme also abgeht, eine Jurorin müsste notwendig den Wettbewerb gewinnen können, so kann ich es von der politischen Seite her so gut wie der nächste 1-Euro-Jobber, und bin dazu literarisch etwas besser in der Lage, weil ich nicht so viel Zeitung lesen muss.

Nach Durchsicht der Buchstaben A und B begann ich allerdings, die Zeitungen mehr zu lieben.

691 Menschen sandten ihre Werke ein. Das klingt nicht nach so viel – eine schlappe Demonstration an einem regnerischen Dienstagvormittag; die Kundschaft des Penny- Markts an der Ecke innerhalb einer Stunde. Betrachtet man die Texte, sind es viel zu viele. Nur ein Bruchteil davon verdiente den Namen Literatur im Sinne von “nicht barbarischer Herzenserguss”.

Das ist bestürzend angesichts der Energien, die in diese Machwerke und in ihren Weg in den Wettbewerb geflossen sind. Bei nicht wenigen hatte man übrigens den Eindruck, dass beim Versand mehr Energie geflossen ist als beim Verfassen. Das ist wirklich bedauerlich, denn wer den Impuls verspürt, ein politisches Gedicht zu schreiben, ist doch jedenfalls ein Mensch, der sich Gedanken macht, den irgendetwas stört und der versucht, das zu formulieren. Nur ist möglicherweise das schlechte Gedicht nicht das beste Gefäß für diese Impulse.

“Nicht hinnehmen wollen mithilfe eines politischen Gedichts” führte also nicht weiter als in Clemens Kuhnerts Emailaccount. Oder in andere Redaktionen, wir sind ja durchaus nicht die einzigen, die sich geistig über Wasser halten mit einem Schwarzmarkt für 5 Minuten Ruhm. Was für eine riesige Zeitverschwendung. Gedanken sind überall nützlicher als in Gedichten. Es sei denn, die Gedichte sind sehr gut. Danach waren wir auf der Suche.

“Das politische Gedicht” wurde von vielen missverstanden als eine bürokratische Kategorie, in das alles von F bis L hineinfällt; sie haben Theaterstücke eingesandt, Kurzprosa, innere Monologe, Altwasser, symphonische Schichtungen und in Alkohol eingelegte Haarbälle, und halten uns für beamtisch engherzig, wenn wir ihre Produkte nicht als politische Gedichte gelten lassen wollen. Es handelt sich hier um ein Missverständnis. “Das politische Gedicht” ist ein Ding, keine Kategorie. Eine schwierige Aufgabe, eine Herausforderung, vielleicht eine langwierige Tüftelei und ein Besiegen innerer Verräter, und man kann nicht beim Verfassen eines Gedichts automatisch-optimistisch davon ausgehen, dass dieser Kampf gelingen wird. So leicht man sagen kann, jedes Gedicht ist irgendwie politisch – und was für eine Schuld bedeutet das nicht, wenn mans recht überlegt, für jedes Gedicht – so leicht fällt die quasimaschinelle Produktion. Was das Unbewusste, was der Mutterwitz ausspuckt – und bei Gott, da ist mir der Mutterwitz fast noch lieber – kommt aufs Fließband und direkt nach Lauter Niemand. Da waren wir schon froh, den einen oder anderen Fingerabdruck eines Formwillens zu entdecken; abgebrochene Zweige von geistigen Handgemengen; Wut, die im Lauf des Gedichts nicht verpufft, sondern sich hochpeitscht und anschwillt; echte Trauer. Darum gings.

Was für Hoffnungen werden in den Literaturbetrieb gesetzt! Dabei wird bei Durchsicht der Texte mit den zugehörigen Biographien evident, dass der Literaturbetrieb – wie Tucholsky an den Mitgliedern von Kreisen überhaupt beobachtete – seine Teilnehmer auffallend verdirbt. Die betriebsferneren Texte, die uns eingesandt wurden, sind tendenziell wenn nicht gut, so doch ohne Falsch. Was an ihnen für das modisch geschulte Ohr zu schlicht erscheint, ist mit der nötigen gedanklichen Schlichtheit gedacht, die mit dem Handeln zur Tür geht und ihm guten Mut nachwinkt. Was an ihnen prätentiös erscheint, ist, was sich für das Leben aufplustert, um Bösewichte zu erschrecken. Was sich an ihnen selbst entlarvt, lädt zur weiteren Arbeit ein. Zeigt allenfalls, dass das Schreiben von Gedichten müßig ist, wenn es nicht hilft, die Gedanken zur Tat zu ordnen.

Das Müßige am tatenlosen Gedichteschreiben zeigen auch die Texte, die sich im Einzugsbereich der Mode sehen. Ihre Energien sind virtuos vor allem darin, verdächtige Spuren der Autorschaft zu verwischen; einen Teppich von richtungsloser Komplexität auszulegen, der den Dichter vor inhaltlichen Vorwürfen schützen soll. Die Gedichte tragen kugelsichere Tarnwesten. Es scheint manchmal die Lyrikszene aus paranoiden Feiglingen zu bestehen, aus denen, wenn man ihnen die Pointen presst, hervorplatzt, dass sie gerne die innere Leere gegen ein Unschuldszeugnis eintauschen würden. Zugegeben sind es virtuose Maler von Tarnfarbenwesten.

Trotzdem möchte ich neben den rückgratlosen Komplexlern auch auf die aus allen Ecken Deutschlands, Österreichs und der Schweiz kreischenden Kleingärtner und Kleingärtnerinnen ein bisschen schimpfen, denn was nutzt so ein Wettbewerb, wenn es nicht seinen pädagogischen Prätentionen gerecht wird. Es genügt hierbei, die Themen zusammenzufassen, die möglichen Meinungen dazu sind denkbar. Und Thema + Meinung ist nicht das Material für ein Gedicht. Thema und Meinung sind die von den Verhältnissen gereichten Gefäße, die uns durch alle Medien in unordentlichen Bahnen halten, und die überwunden werden müssen, um etwas zu sagen.

Wir haben die Einreichenden gemäß ihres angegebenen Engagements in verschiedene Arbeitsgruppen eingeteilt. Sie werden gebeten, sich nächste Woche Montag um sieben bei ihrer jeweiligen Ortsgruppe einzufinden. Von denen
  • gegen Krieg
wird erwartet, ein Waffenlager aufzuspüren, sich zu bewaffnen und die Vorstände der Waffenhändler umzulegen, sodann die Waffen zu den Jobcentern zu schleppen und die Wartenden dort zu bewaffnen, sodass sie Banken überfallen können.
  • Die gegen Hartz IV, Arbeitslosigkeit und Widersinn
werden gebeten, mit den ihnen zugeteilten Waffen nach der Stillung ihrer ehrenhaften Bedürfnisse einige Hassprediger zu kidnappen, in Unterwäsche des jeweils anderen Geschlechts zu kleiden und unabhängig von ihrem Ehestand mit ungewaschenen Sonderangebotjägern zu verheiraten, um die kulturelle Verständigung zu fördern.
  • Die gegen Politiker generell schreiben
werden gebeten, Gerhard Schröder aus der Gazprom zu holen und lebendig mit den persönlichen Akten alle Hartz IV-Empfänger in einem gut beleuchteten Bohrtunnel zu begraben. Und so weiter, ich möchte nicht ermüdend witzeln. Die weiteren häufigen Themen sind:
  • der Kontrast von erster und dritter Welt
  • gegen Schulschießereien
  • für Konsumkritik
  • für Umweltschutz
  • Darstellung ungerechter Einzelfälle
  • gegen die Falschheiten, die dem Mauerfall folgten
  • die eigene Katze und Yogaübungen
sowie die etwas spärlicher besetzten Arbeitsgruppen
  • gegen Gedichte
  • gegen Kindersoldaten
  • und gegen die Rechtschreibreform
Wir bitten alle, sich in ihrer jeweiligen Gruppe fleißig, vorallem aber kreativer als bisher zu betätigen und wünschen dabei guten Mut.

Wir grüßen alle, die eingereicht haben, herzlich. Der dabei bewiesene Sportsgeist ist der Grund, warum im deutschen Sprachraum alles beim Alten bleibt.

 
Jinn Pogy
Zur Lesung zum „lauter niemand preis für politische lyrik“
"Ich suchte die Bomben, ich fand sie nicht. "
(aus „Wir sind doch kein Jurassic Park“ von René Hamann)

Ein Mittwoch Abend, im renovierten großen Saal der Wirtschaft „Max und Moritz“: große Lesung samt Preis- und Brüsseler Pralinen-Verleihung zum politischen Lyrikpreis, ausgeschrieben von Literaturverein lauter niemand. Um die 70 Besucher konnte die Redaktion zählen, von denen knapp die Hälfte dem Literaturlabor lauter niemand entsprangen, die andere Hälfte aber, die das bildungsnahe und verdienende (5 EUR Eintritt) Volk repräsentieren sollte, entsprangen vielleicht dem gehobenen Neu-Kreuzberger Umfeld. Eine Postleitzahlhebung blieb leider aus. Aber das könnte sich in Zukunft ja ändern, denn der Preis soll auch im kommenden Jahr wieder ausgeschrieben werden. Der Stifter Jörn Sack ließ bei edition bodoni eine Anthologie drucken, die für 10 EUR auch noch nachträglich über die Webseite www.lauter-niemand.de zu bestellen sein dürfte. Nach gefühlten 30 Minuten Einführung in den Abend durch den Stifter, der bereits zu Beginn wissen ließ, was er von den Preisträgern so hält, (die Verleihung stand ja eigentlich noch aus) hatte Alexander Gumz die undankbare Aufgabe, die erste Hälfte der Lesung zu starten. Ernsthaft wirkte er und man ahnte, dass das unsichtbare, oder die hohe wahrscheinlichkeit, das wichtigste zu übersehen in seinen Texten hier und jetzt im Raum auch so geschieht: es ist wirklich ungünstig, nach einer derartigen Einführung (heiße Ohren!) zu lesen. Seine Poesie, die Kritik an der landläufigen Ideologie sein mag, an Herrschaften und Gewalt (...von unsichtbaren Pranken...) erreichte schwer, sein Gegenstand ist die Sprachlosigkeit. Der (unerfüllte) Traum von der Redefreiheit, den er hier zwar in der Miniatur realisieren könnte, wurde leider bereits im Vorfeld durch die ausschweifende, will fast sagen: gut gemeinte Propaganda-Rede (7 Seiten in der A4 Anthologie) des Stifters erstickt. Dabei stecken provokative Querverweise in Gumz Gedichten: sich nur daran zu freuen, dass nichts einmaliges / gestohlen wurde. Oder: in deutschland vergraben sie zur / selben zeit / handfeuerwaffen. spalten schädel, stutzen lippen./ damit keiner mehr / im dunkeln pfeifft. das ist die wahrheit, meine Damen!

Dann aber, mit Clemens Schittko, erwachte das politische Deutschland, oder besser, seine ohne polizeiliche Genehmigung versammelte, exemplarische, lyrophile Beobachtergruppe. Deutschland ist schön, so schön rief er mit seiner schönen Lesestimme deutlich aus und man klatschte beeindruckt. Da war das Wir-Gefühl! Und er hob es weiter an, mit seinem Gedicht über die Liebe im - oder besser - nach dem Tod, als als Leichenbeschau, wo man sich, themenmäßig jedenfalls, gleich daheim fühlt, bei berühmten Vorbildern aus der Morgue-Reihe (Benn, 1912). Man musste sich also nicht groß anstrengen, man konnte gelassen rezipieren. Clemens Schittkos Kraft ist die Erzeugung von Stimmung. Dramaturgisch gesehen war er der Autor des Abends, der, der das Gedicht zu verkaufen weiß, es an den Hörer bringt. Über Selbst ist der Autor bis zu China ist unschön, fand ein gelabeltes Gesamtwerk statt. Alle hier erwähnten sind leider in der Anthologie nicht abgedruckt, dafür Vokabel – Vorschläge für die jüngere/n und jüngste/n deutschsprachige/n Lyrik/erInnen. Clemens Schittko kennt das Hör-Dilemma an stark lyrisch frequentierten Abenden. Insofern liefert er Lyrik mit Klinke und das Publikum dankt es ihm. Danke schön für die eingängigen Bilder, wenn man auch später über das als demokratisches Gesellschaftsbilderbuch bekannte Facebook munkelte, der Autor habe dreister weise (oder mutiger weise?) mit „Deutschland ist schön“ nur ein Plagiat vorgesetzt, was ursprünglich den Titel „Österreich“ trägt, was der Saal aber bereitwillig fraß, da es ja eh keiner wusste, und auch keiner vor Ort laut zu sagen verspürte (vielleicht von der Macht einer „plakativen“ Stimme eingeschüchtert?).

Johanna Bartel, die im Anschluss lesen musste, ist ja noch jung. Sie wollte auch lieber stehen, ganz legitim, stehen, bei all den männlichen Lesekollegen des Abends, stehen, vielleicht um nicht unterzugehen. Sie begann mit lyrischem Klickkino von Rehen und Stachelbeeren und Oma und den Russen, notierte Gespräche über Kinderspielzeug und ließ Sätze wie da vorn geht’s geradeaus erklingen, und man nickte still und jugendandächtig. Steckt da schon eigene politische Erfahrung drin, oder muss man sie auf das, was sie auslässt, verorten? Das, was sie nach eigener Aussage nicht zum politischen Lyrikpreis einreichte, war vielleicht das Beste, was sie zu sagen hatte, hätte man noch die Aufmerksamkeit zum Hören der viel zu aufgeräumten Texte aufbringen können. Leider las sie nur und ist in der Anthologie nicht nachzulesen, nicht aufzufinden, was weitere Fragen aufwerfen könnte, wenn man politisch korrekt wäre, so aber muss sie sich wohl selbst fragen, oder wir uns, oder den druckverantwortlichen, ob sie hier in die Lesung nicht als Quoten Frau eingearbeitet wurde. [Anm. des männlichen Teils der Redaktion: Jana Barthel, wie sie korrekt genannt werden will, ist unter dem Namen Kater Klezmann in der Anthologie vertreten, trägt aber alle drei Namen in jeweils anderen Zusammenhängen]

In dem Zuge macht es sich gut zu erwähnen, dass ohnehin Fragen aufkommen, wenn man die Teilnahme an dieser ersten Ausschreibung betrachtet: 691 Einsendungen, mehr als erwartet, davon waren aber nur 191 von Frauen, weniger als erwartet, verhältnismäßig gesehen. Man könnte diskutieren, ob sich Männer eher angesprochen fühlen, ihre bürgerliche Identität mit der mannhaften Beteiligung am politischen Kampf zu manifestieren. Ob sie in der Gattung der politischen Dichtung eine Legitimation sehen, elitäre Bildungsgüter zu produzieren, eine Gattung zu bedienen, die endlich mal den Mann auf den Plan ruft, der sich in den letzten Jahrzehnten als Lyriker doch noch einem gesellschaftlichen Vorurteil zwischen Weichei, Versager oder Weltabgerückter ausgesetzt sah? Man könnte diskutieren, ob lyrische Frauen sich nicht angesprochen fühlen, in einer Manege des politischen Ausdrucks eine Stimme zu erkämpfen? Ob sie dem Gedicht als politisches (subversives?) Werk seine weibliche Berechtigung absprechen? Oder ob sie gar das Verhältnis von Lyrik und Wirklichkeit in einer sich verweigernden Weise darstellen wollen? Oder ist Politik (Herrschaft, Humanität, Ideologie, etc.) im Großen etwa kein Thema für die moderne deutsche Frau, bleibt sie mit Herd, mit Privatem, mit Randgruppenidentifikation verstrickt und am „handfesten“ Gattungsgedicht gehindert? Da wird die Poesie wichtiger genommen, als die Welt von der sie lebt. (Volker Braun). Beinhaltet diese Aussage zutreffendes in Bezug auf unser Thema? Nun, weiter.

Lars Arvid Brischke sieht die Not der Stunde und liest nur ein Gedicht („da sich alle auf die Musik freuen“) mit dem verbindlichen Titel: 184 Krawatten für Gerhard Schröder. Aha, man versteht sofort, hier weist einer auf inhumane Zustände mittels parteikritischer Texte hin (wobei die anderen Texte in der Anthologie provokativer und auch globaler sind). Er konnte selbst kaum glauben, „dass dieses Gedicht in die Auswahl kam!“. Er amüsiert und witzelt (eine wiedererkennungskrawatte für frogs- friends of Gerhard Schröder) und es gelingt ihm tatsächlich, einfach so, dem Publikum die ganze Gerhard-Story in diesem Hinterstübchen in der Oranienstrasse (MolotowCocktails, brennende Autos: erster Mai) aufzubinden. Kaum ist zu befürchten, es gäbe eine Endlos-Schleife, schnürt er ab mit eine Krawatte am Ziel, und keine Krawatte zuviel, was auch einfach so stehen gelassen sein mag. Das vermeintliche Ziel, an dem das Gedicht nun angekommen zu sein wünscht, vielleicht die Pause der Veranstaltung, vielleicht eine anarchistische Referenz zum politisch-lyrischen Schaffen – erschafft ein Happy-End Gefühl, was leider auch das Gefühl, es müsste mit einem der Autoren später ein Gespräch über Politik begonnen werden, hängen ließ.

Entspannungsbeauftragter am Klavier war Volker Spicker, der ein wenig die zwecksuchenden Hirne mit free-jazzigen Tönen zerzauste, (oder wie auch immer Kenner diese nennen mögen), die sich wunderbar anhören, vor allem, wenn man vorher so stringent durch den Krawatten Knoten gezogen wurde (gönnt mir den Spaß).

Nach der Pause: die drei Preisträger, von hinten nach vorn, wie es sich gehört: Achim Wagner aber weilt in Istanbul, wie wir erfahren, und er wird vertreten von dem lese-erfahrenen Jurymitglied Björn Kuhligk, der dessen, von der Formsprache gesehen nicht einfachen Texte gekonnt vorträgt. Dabei erfuhr man, wie die Färbung durch eine bekannte/ erkannte Lesestimme fremden Texten den Charakter eines anderen Autoren verleiht, was irritieren kann - wenn auch reizvoll. Achim Wagner, der sich erfreulicherweise mit seinen Texten der Herrschaft der Preisausschreibung (die sich quasi die „Wiederauferstehung“ eines bleibenden politischen Gedichts wünschten, um das junge Autoren angeblich „einen großen Bogen machen“) durch Einsendung seiner modernen (InterpuntionsWow-) Prosatexte verweigerte, und damit bewies: das eigentlich jeder Text als in der Gattung politischer Lyrik beheimatet betrachtet werden kann, wenn man als Wertungsprinzip die Intensivierung des Rezeptionsvorgangs und den hohen Wirklichkeitsbezug anführen möchte: ...beim berliner Leuchtturm am alex steigst du aus der unterwelt an meinen mund... . Jedenfalls wird hier nichts ideologisch zu Markte getragen, was in diesem abendlichen Kontext sehr erfrischend wirkte.

René Hamann drückt vielleicht am politischsten, wenn es diese Steigerung gäbe, (und wenn man sich einigen könnte, was das sein soll) aus, was die Menschen in Deutschland heute so umtreibt und bleibt so mit Werken wie die beste Zukunft aller Zeiten und das Ende der Arbeit für einige Besucher stiller Gewinner der Veranstaltung. Zu Recht ist dieser Text hier mit seinen Worten übertitelt, und es verführt, weitere seiner Textstellen zu zitieren: gefragt werden ist besser als anbieten müssen oder die übertherapierten / auf der armenhochzeit winken ab, sie haben genug / gesehen: das ende der maschinen, sie laufen im kreis / alles nimmt ab, alles wird gefilmt. Hier also doch näher an Brecht (dessen Name immer einfiel) Lyrik soll die Wirklichkeit verändern, und zwar ohne Aufdrängen politischer Zweckmäßigkeit. René Hamann findet die Balance: Seine Gedichte gesellen sich zu den Gegenständen seiner Betrachtung, indem sie mit poetischen Mitteln vielschichtige, kritisierungswürdige Zustände, Verhalten und vor allem: Bewusstsein aufweisen.

Nun, HEL. Er ließ seiner Freude über den ersten Preis dieser ersten - lauter niemand politischen Lyrik - Ausschreibung freien Lauf, so dass man sich mit ihm freuen mochte und ihm doch, nach angeblich genauem Hinsehen eines kritischen Besuchers „fishing“ unterstellt wurde. Seine Tendenzen illustriert sein Werk allzu deutlich: politisches quillt aus jeder Zeile, die er auch noch auf der reimenden Endsilbe absetzt und damit geübtere Lyrikhörer gehörig in die Mangel nimmt. Sein Stoff wirft die Sehnsucht nach Widersprüchen auf, alles ist gewebt und collagiert, dabei nicht einmal sinnfrei, und das ist, was am Ende bleibt, ein Geschwirr aus gewichtigem politischem Vokabular, ein KleiderKaiser, ein moralisches Alibi (?), man denkt an eine Glosse - wenn auch eine schier endlose. Hier wirft er auf, um dort auszulassen, bedient sich einem komponierten (kabarettistischen) Kanon, sprachverliebt. Exzentrik bedeutet in formen zu bleiben, doch er differenziert sie nicht aus, diese Haltung und auch keine andere, sammelt Themen und klagt alle Akteure der politischen Bühne an und erfreut sich an den eigenen gezappten Konstruktionen Fern spielt die Seifenoper / Wir schalten wieder um / die NATO ist ein hilfskonvoi / aha für nichtmitglieder / das war auch dem Irak nicht neu / fuhr Saddam in die glieder... Vielleicht mag das als agitatorische Klang-Wort-Installation gelten, die sich nach eher eigenartigen, willkürlichen Regeln abspielt, und nach Ihrer Entstehung ihren betitelten Kontext sucht? Der Gewinn daraus: die Referenz zum medialen Bilderreichtum, zur politischen Ohnmacht, zum Information-Overload, der ja auch im echten Leben nicht in die Aufklärung führt. Immerhin biedert es sich so nicht an, und das ist vielleicht sein Glück bei der Entscheidung der Jury (Anne Cotten, Björn Kuhligk, Bert Papenfuß) gewesen. Leider weiß das Publikum es nicht so genau, eine Laudatio dazu wäre in diesem Fall wünschenswert.

Die im Anschluss nach dem musikalischen Abbinder geplante Diskussion unter dem Titel „Welche Herrschaft braucht politische Lyrik?“ entwickelte sich oder entwickelte sich eher nicht vor einem leider auffällig geleerten Raum. Auf dem Podium als Diskussionsleiter Clemens Kuhnert, Anne Cotten und Björn Kuhligk, die alle drei, mag es an der späten Stunde oder an dem vorangegangenen Wortreichtum gelegen haben, nicht so recht reden mögen, und am Liebsten gar nicht zu dem vorgegeben Thema, und sie bemühten sich doch. Aus dem Publikum gab es den Vorwurf, die deutschen Lyriker hätten heutzutage nichts mehr zu sagen, die Frage nach dem, wer oder was eigentlich politisch sei trat auf. Man versuchte, Lyrik mit politischen Handlungen unter einen Hut zu bekommen, oder dichterische Haltungen mit öffentlichen Auftritten, was natürlich scheitern musste, da halfen auch nicht die seitlichen Moderationseinschübe des Stifters. Auf Aussage einer Dame aus dem Publikum das sei „hier alles zu lahm“ macht Ann Cotten das in einer basisdemokratischen Runde einzig Richtige, sie bot ihren Platz der Klägerin an, die aber winkte ab. Okay, wir waren ja wegen der Lyrik gekommen, und nicht, um aus dem Hinterstübchen heraus die Welt zu ändern. Insgesamt blieb die Diskussion unbefriedigend (was einer Diskussionen über Politik ja häufiger anhaftet) und verlief sich (vielleicht hätte die Laudatio doch geholfen) in Fragen zu den Kriterien der Juryentscheidung. Immerhin aber führt sie im Abgang zur generellen Problematik des Wechselbezuges von öffentlichem Sprachgebrauch und Politik hin. Gut, der Prozess bleibt also lebendig und steht im kommenden Jahr erneut zur Diskussion, nebst Wein und hoffentlich viel Weib. Und da ist es wieder, immer passend: Yes we can.
 
Clemens Kuhnert
Fragen zur Diskussion mit Jury und Publikum
„Welche Herrschaft braucht politische Lyrik“ (21.10.2009)
  1. Ist politische Lyrik ohne einen Bezug zu Herrschaft überhaupt denkbar? Was ist das Besondere politischer Lyrik im Gegensatz zu anderer Lyrik?
  2. Über welche Herrschaft handeln die eingereichten Gedichte, was waren die Themen und welches könnten oder sollten Themen politischer Lyrik sein?
  3. Wie wird sich bei den eingesandten Beitragen der Herrschaft genähert und aus welchem Gefühl der Teilhabe am politischen Geschehen wurden die Gedichte geschrieben und was erscheint daran passend, was unpassend?
  4. Und dies gehört vielleicht noch zur oberen Frage dazu: Mit welcher Beherrschung haben die Autoren welche Mittel verwendet und wie angemessen schienen sie? Was wären angemessene Mittel bezogen auf den Zweck?