gedichteauswahl
 
gedichte des preises für politische lyrik 2009
politikringe
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Vorwort

Preisträger:
Jeweils Wohnort und Geburtsdatum
HEL ToussainT (Berlin / *1957)
René Hamann (Berlin / *1971)
Achim Wagner (Köln / *1967)

Engere Auswahl (alphabetisch)
Alexander Gumz (Berlin / *1974)
Claudia Gabler (Lörrach / *1970)
Clemens Schittko (Berlin / *1978)
Gerald Fiebig (Augsburg / *1973)
Jana Barthel (Halle-Saale / *1983)
Lars-Arvid Brischke (Berlin / *1972)
Stefan Monhardt (Berlin / *1963)

Autoren in Auswahl (alphabetisch)
Armin Steigenberger (München / *1965)
Bernhard Erich Kaute (Lend im Pinzgau (A) / *1984)
Birgit Schwaner (Wien / *1960)
Boris Laaser (Berlin / *1969)
Carina Nekolny (Wien / *1963)
Clemens Hoffmann (Berlin / *1975)
Cornelia Travnicek (Traismauer (A) / *1987)
Eike Grauf (Stuttgart)
Florian Strob (Oxford (UK) / *1985)
Gerhard Rombach (Sollentuna (S) / *1931)
Hajo Fickus (Wangen im Allgäu / *1955)
Hanna Fleiß (Berlin / *1941)
Harald Birgfeld (Heitersheim / *1954)
Hilde Hack (Köln / * 1955)
Holger Ziegeldecker (Gnarrenburg / *1958)
Horst Jahns (Nürnberg / 1957)
Kai Pohl (Berlin / *1964)
Kerstin Preiwuß (Leipzig / 1980)
Kristiane Kondrat (Augsburg / *1938)
Leander Sukov (Berlin / *1957)
Lisa Fitting (Duisburg / *1951)
Lutz Rathenow (Berlin / *1952)
Marianne Glaßer (Germersheim / *1968)
Michael Bärnthaler (Wien / *1985)
Mischa Strümpel (Schwäbisch Hall / *1976)
Philipp Hager (Wien / *1982)
René Steininger (Wien / *1970)
Rolf Bödege (Frankfurt)
Sabina Lorenz (München / *1967)
Sabine Hennig-Vogel (Lutherstadt / Wittenberg *1962 )
Jürgen Flenker (Münster / *1964)
Stefan Heuer (Burgdorf (Hannover) / *1971)
Su Alois Immekeppel (Berlin / *1962)
Thien Tran (Köln / *1979)
Thomas Steiner (Neu Ulm / *1961)
Tobias Falberg (Oberasbach / *1976)
Ulf Großmann (Dresden / *1968)
Walter Baco (Wien / *1952)

 
vorwort lauter niemand redaktion
Diese Seite bietet ihren Lesern eine der umfangreichsten und interessantesten Sammlungen politischer Gegenwartslyrik. Veröffentlicht sind hier die Gedichte von Autoren, die am lauter niemand preis für politische Lyrik teilnahmen. Die Jury aus Ann Cotton, Bert Papenfuß und Björn Kuhligk wählten 3 Autoren als Preisträger, 7 Autoren in die engeren Auswahl und 38 Autoren als beispielhaft in die weitere Auswahl. Bei allen Autoren haben wir uns bei den Angaben auf den Wohnort und das Geburtsdatum beschränkt, sowie ggf. auf das zuletzt herausgekommene Buch. Die Rechte an den Gedichten liegen bei den Autoren oder ihren Verlagen, die dankenswerter Weise mit ihrer Teilnahme einer Veröffentlichung zugestimmt haben. Die Wirkung einer politischen Aussage steigt mir der Anzahl derer, die sie vernehmen können. Dies hier ist unser Beitrag dafür. Ausgeschrieben wurde dieser Preis und organisatorisch sowie redaktionell betreut vom lauter niemand e.V., die Preisgelder stiftete Jörn Sack.
Auffallend viele Autoren der Auswahl leben in den Hauptstädten Berlin und Wien, doch geboren sind hier die wenigstens. Schicken uns für die Zeitschrift „lauter niemand“ Autorinnen und Autoren mittlerweile ziemlich ausgewogen ihre Texte ein, so stehen bei den Teilnehmern am Preis ca. 500 Männer nur 191 Frauen gegenüber. Die Frage, was dies geschlechtsbezogen über den Willen zeigt, sich politisch zu äußern, bewegt auch Jinn Pogy in Ihrem Kommentar zur Lesung zur Vergabe des Preises (s. „kommentare/ kritiken“). Böswillig könnte man daraus schließen, dass Frauen in politischen Ämtern bereits überrepräsentiert sein könnten. Dass Schröders Krawatte (s. Gedicht von Lars- Arvid Brischke) zur Essenz der politischen Aussage werden kann, dass könnte auch interessierte Minderheiten politikverdrossen werden lassen und sagt vor den Politikern erst einmal etwas über die Wähler.
Geschrieben sind die hier versammelten Gedichte von klassisch modern bis modern traditionell und gehen vom Gedicht in Mundart über experimentelle Lyrik bis zum Ready Made. Dabei sind sie vom Auftritt bodenständig bis metaphysisch und bildhaft direkt bis abstrakt analytisch. Aus einigen spricht auch persönliche Betroffenheit, dies jedoch eher selten. Von der Politik lassen sie eher weniger, von der Lyrik mehr erwarten und erhoffen. Auch wenn sich Ann Cotton in ihrem Kommentar (s. „kommentare/ kritiken“) unter anderem mehr Ecken und Kanten wünschen würde, so war ich als begleitender Redakteur angenehm überrascht über die inhaltliche und formale Vielfalt der Auswahl, die sie mit den beiden anderen Juroren zusammen getroffen hat. Eigentlich fehlt ja dann doch fast nichts.
Nun habe ich als begleitender Redakteur auch nur die ausgewählten Texte gelesen. Durch die inhaltliche Maßgabe „politischer Lyrik“ gewinnen viele Gedichte jedoch deutlich an Strahlkraft für mich. Hier beanspruchen Dichter die Aufmerksamkeit einer Gemeinschaft mit einer bestimmten Haltung und Meinung, die über eine ästhetische Position hinaus geht, nämlich mit Themen, die diese direkt betreffen. Zu dem, wie sie es sagen und was sie sagen gehört auch, dass es öffentlich gesagt wird. Politisch ist, Widersprüche nicht nur zeigen, sondern sich dem Widerspruch auch zu stellen oder ihn sogar heraus zu fordern. Dies erfordert zu Intelligenz, Wissen, Erfahrung und Können am Ende auch Mut. Dass es sich um Lyrik handelt, sagt dabei nicht mehr, als dass es sich um eine Äußerungen mit besonderer Ökonomie und auf höchstem sprachlichen Niveau handelt: Man kann es in der Kürze nicht besser sagen. Dies gilt für alle gute Lyrik. Politisch wäre es nun auch, dabei das Böse nicht nur aus guten Gründen verhindern zu wollen, sondern sich aus eben so guten Gründen etwas Gutes zu wünschen, also eine Vision. Nur mit den Visionen ist es wohl wie mit dem Sex in der Literatur, ihre Beschreibung wirkt schnell komisch.
Die Auswahl scheint meine Vermutung im positiven Sinn zu bestätigen, dass die Arbeit einer Jury für politische Lyrik in bestimmten Grenzen ebenfalls politisch ist: Wer will schon Texte lesen, deren Haltung und Sprache denen ähnelt, gegen die sie sich zu wehren behaupten und dabei Ansprüche vortragen oder Leidensszenarien aufbauen, bei denen man die Gründe nicht wirklich nachvollziehen kann? Nicht wenige der ausgewählten Gedichte bewegen sich im Grenzbereich zum Politischen, nur sind bei vielen Autoren die einzelnen Gedichte hierin unterschiedlich deutlich und wir wollten sie möglichst umfassend vorstellen. Dass sie im Grenzbereich liegen, nahmen die Juroren aber sicher nicht anders wahr, als wir Leser und im Umkehrschluss heißt dies, dass wir alle einen ziemlich genauen Begriff davon haben, ab wann sich jemand politisch äußert. Nicht jedes Gedicht ist am Ende also irgendwie auch politisch, wie man es oft als These zu hören bekommt. Dies träfe nur bei einer Perspektive auf die Welt zu, unter der auch die Geranie am Ende zum Tiger wird, weil wir alle von den Einzellern abstammen.
Noch mal Dank an die Jury und alle Autoren, die mitgemacht haben. Der lauter niemand preis für politische Lyrik wird auch in 2010 wieder ausgeschrieben werden.

Viel Spaß beim Lesen wünscht,

Clemens Kuhnert
Für die Redaktion von lauter niemand

 
Preisträger
 
HEL ToussainT
Buch u.a.: „Trostlied für Nada“, Krash Neue Edition im Stahl- Verlag, Köln 2004
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HEL ToussainT

Des menschen arbeit ist getan  sei E-

diacara milbt des Theseus ruhekissen
Wir wissen alles  wenn wir gar nichts wissen
Uns trifft er nicht der kopfstowasser E-

 

gis   So verdoktern wir klicklack  das e-

lend  blindfleckblind das glück uns eh entrissen

nun gut ein reihenhaus in Algermissen

für reine reinrauszeit nicht für die  e-

 

wigkeit   Nicht Brecht doch Watzlawick entprächtigt

bleibt uns das dichten wetterweiter südlich

Auch ist das ornunkshalber rückbezüglich

im übrigen im quantenwerk so üblich

 

Das zellgespiegel hat uns scheint’s ermächtigt

Die welt gerettet! wir wuwei-berechtigt

 

 

HEL ToussainT

DER FIEDELRUSSE

 

Der russe sieht seinem großvater ähnlich

ein mädchennasiger hüne fähnrich

Die hand zieht den umriß von dessen konturen

die zunge formt worte auf dessen spuren

 

Er rettet die bücher  die edelholzstühle

er rettet vor allem die alten gefühle

Er ist auf dem eismarsch durch fauchende steppen

hat  stadthaus und hauptstadt samt hausrat zu schleppen

 

Der fiedelrusse spielt ab seine phrasen

das band hat durch hunderte ohren geblasen

So geigt er sich aus dem schlamassel ins freie

der hohlwelt und preßt zu marienglas die schreie

 

Vertut euch nicht  miete in Moskau zieht er

nur hier in Berlin vergeigt er die mieter

nüscht anständjet fressen und haschischesser

aber japanischen schleifstein fürs messer

 

Er riecht kommissare auf anderthalb meilen

Man braucht sich mit schulden nicht mehr zu beeilen

Auch liest er Nabokov  Berlin ignoriert ihn!

ne falsche betonung melancholiert ihn

 

Die Rotsoldateska  `t Ewropa  gefressen

sozialrevoluzzer dinieren indessen

ER hütet die vorkriegs (I!) schreibmaschine

sie sei es die einzig der wahrheit noch diene

 

O fiedelrusse du hungerschnitter

zu  schwer ist der umhang und wieder sinkt Piter

mit Fabergé-Ei mit heiligen lettern

und schiefäugig dankst du womöglichen rettern

 

In allen exilen gibt’s retrokraten

die nie dazu kamen  die nie etwas taten

Der Zar nicht unten  Kerenskij nicht oben

das wasser ist hungrig der wind frißt den koben

 

Exzentrik bedeutet in formen zu bleiben

der väter verlorene sach zu betreiben

Vielleicht erinnern sich derart verbannte

in gesten verhinderte Konstituante

 

Du bleib in der logik auch wenn du hinausgehst

Du trägst ja das habit weil’s sonst dich ins aus weht

Du sucher gefallen du heulender wolfshund

und hassest das fleisch doch liebst seele in goldgrund

 

Burschui wandern am spülsaum der zeiten

wie mäntel  die pferdeskelette reiten

wo westwind sie falsch singt die alten bylinen

auf krachenden schollen auf rostigen schienen

da trotten sie  Kolja ist einer  von ihnen

 

 

HEL ToussainT

 

 

In einem land vor gewerkschaft und lohn

   einem land mit eisenarmierung

in so einer zone   Pedro  erlebt

   der mensch seine wiedervertierung

Da bist du kein einziger Pietro mehr

   da karrt man dich hin in partien

Du bist an den subunternehmer verkauft

   und an das gastland verliehen

 

Monatelang im container zu zwölf

   du  hörst nur auf deinen polier

In einer kassette liegt dein paß

   und die schuldverschreibung nach hier

Kommt geld bei deiner familie an?

   wo willst du hin ohne paß?

was steht da wenn’s fertig ist? dümmer als wind

   ein weiterer hohlraum ist das

 

Einmal im monat kommt Lou mit dem stall

   Hast du schon pause Piet?

ziehn ab ob du dran warst oder nicht

   Was da das mädchen von sieht

Du denkst du kommst nie mehr nach hause   Pierre

   und nie mehr aus schulden zu lohn

und nachts schreckst du auf schreist containerblech an

   im alptraum von nassem beton

 

Und ist er fertiggegossen der bau

   seht ihr die rostroten strähnen?

nach wenigen regen schon wie ein fluch:

   das sind Pjotrs tränen

Kräne mischer gebläse beton

   gestalten abdammgewölle

Das ist Europas glaskabelwelt

   vor unseren augen die hölle

 

 

HEL ToussainT

HUTTENS WIEDERGANG

 

                                                            „Die Annexion der DDR

                                                             ist der Anfang vom

                                                             Ende des Friedens in

                                                             Europa“ Helmut Loeven

                                                             in DER METZGER 57/99

 

1    Du liegst versetzt Europa

           an falschen küsten rum

      Fern spielt die seifenoper

         Wir schalten wieder um

         Die NATO ist ein hilfskonvoi

      aha für nichtmitglieder

         Das war auch dem Irak nicht neu

      fuhr Saddam in die glieder

         So macht man mit dem Viertreich zins

         Es war die zeit des luftgewinns

      mit westgestreckten händen

         Die DDR verspekuliert

         und gleich nach neuem markt gegiert

      Der bombenkrieg soll enden!

         Ihr handelt wenn’s

      ...für konkurrenz

      McDonnell Douglas gut ist

         Fleht Kurdistan

         die UNO an

      da fragt ihr wo das blut ist

 

2    Die bilder saufen leere

        Die sonne säuft den sand

      Wie’n wachtdienst gehn die heere

         im kameraverband

         Man spalte eine region

      sie wird sich selbst zur beute

         So stand es um Nordirland schon

      so steht’s mit Bosnien heute

         So steht es um das Kosovo

         um Pakistan Golan steht’s so

      zerschnitten von den mächten

         Auf konferenzen tat man’s kaum

         war’s British Empire aUS der traum

      per Federstrich entrechten

         Hieß auch ein man

         Kofi Annan

      er könnt es doch nicht ändern

         Imperialis-

         mus bleibt der ist-

      stand  über schwachen ländern

 

3    Die flüchtlinge die frauen

         die ihr inn bildschirm zieht

      und ihre augen schauen

         wie ein versuchsgebiet

         Was sprecht ihr von Milosevic

      den habt ihr abgerichtet

         Hört auf mit dem tyrannenkitsch

      Auch schurkentum verpflichtet

         Milosevic dem traut ihr nicht

         und ihn ermorden wollt ihr nicht

      und wollt ihn zwangsverhandeln

         Wenn er sich beugte dem diktat

         ihr wisst das wäre hochverrat

      Und Blut fließt aus den kandeln

         Warum nur wagt

         man nicht und klagt

      Schröfischer an als –brecher

         Den Haag! Den Haag!

         das Recht liegt brach!

      der mafia zinst der schächer

 

4    Ihr ostkanalarbeiter

         Ach deutsche SPD

      du aluminiumleiter

         zu Noskes portepee!

         Und sprechen wir vom Balkanriff

      Der zuwachs kommt zu teuer

         Europa habt ihr nicht im griff

      Der osten wird nicht euer

         Und sprechen wir auch mal vom geld

         Man kriegt so viel wie’s Amselfeld

      bei Sotheby’s zu kaufen

         Dann Marshallplan und rückbau und

         an allen börsen geht es rund

      die wirtschaft kommt ins laufen

         Ich bin weiß dachs

         kein ökopax

      Der flüchtling richt die waage

         Doch kosovar

          bleibt stets barbar

      und stört die morgenlage

 

5     Was soll Zipflasien werden

         ein schieberbörsensaal

      ein park für bankerherden

         ein minenarsenal?

         Serbien lebt in seinem wahn

      Albanien wahnt auf raten

         Des Vierten Reiches bagdadbahn

      Ist eine bahn von daten

         Denn worum geht’s? um strategie

         Herr Fischer da Frau Albright hie

      um sollbruchzonen! Rußland

         ist’s mit im boot? ersäuft es fast?

         bringt’s den Profit? ist’s kranke last

      ein veteran mit schußbrand?

         Die erde bebt,    

         Es brennt was lebt

      Es ist ein tal der fragen

         Wir wissen nichts

         vom stoff des lichts

      Wir sind in nacht geschlagen

 
René Hamann / Berlin / *1971

Letztes Buch:Berge und Täler, davor Männer und Frauen / Gedichte / Gutleut Verlag Frankfurt/M. 2009

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René Hamann

Wir sind doch kein Jurassic Park

 

Einblicke in den Neonstraßen

Aufbrüche im Einkaufsparadies
eine Jugend ohne Fernseher, Welt
ohne Untersicht, ich habe dich

 

in der U-Bahn gesehen, tagelang

gab es kein Licht. Ich suchte

die Bomben, ich fand sie nicht.

 

Auf der Straße kauerte das Korps

der Rache, Atemflausch und Barbi

turate, als sie das Café Storch

betrat, eine Frau im gelben Hemd.

 

Sie öffnete den Mund in meine

Richtung, empfindsam und verstört.

Hochspannungskörper, nikotinsatte

 

Luft. Die Geheimnisnummer, das

Konkubinat, nichts stimmte, die Uhr

zeit nicht und nicht die Atmospur.

 

© 2009 Gutleut Verlag, Frankfurt/Main und Weimar

 

 

René Hamann

DIE BESTE ZUKUNFT ALLER ZEITEN

 

durch totsichere isolate und abgebundene szenen

zieht die autobahn an den vorstädten vorbei

blechlawinen, böse brücken, glühende häute

lichtempfindlichkeiten auf raststätten, pausen

höfen, mutterschiffen, die kontaktdefizite

die nicht mehr auszugleichen sind, parkhäuser

und telefonzentralen, die krummen satelliten

städte, weltraumopern, wäschestangen, partykeller

die besorgten anrufe nach dem hellen lichtblitz.

 

der astronaut wischt die blutspuren auf

machtferne als leistung, armut als luxustherapie

SIEG DER STERNE, die zeitungen warten

auf die sammlung, das telefon im wohnzimmer

klingelt selten und wenn, ist es lästig, wie mittags

der gang vor die haustür, die briefkastenkontrolle

das klingelschild mit den fingerabdrücken, die

briefträgerhosen, bissspuren, schürfwunden, allein

der hund hat sich verlaufen, ganz wirr und wild

 

wie die modekranken, gewuppten kinder

die als sohnemann das kirchenblatt bringen

oder den rasen mähen, meist faulenzen sie

auf der sonnenschaukel und schäkern

mit den nachbarstöchtern, DEEP THROAT

oder feste bindung, der gerüttelte verkehr

auf den kunststoffböden, die nachgestellten

fotos: in der berufsschule der über den kopf

der lehrerin gezogene tisch, übermalt

 

die münder in den schrebergärten, die nach

gezeichneten gefühlskonstanten: visionen

einer verblassten autobahn, die verrutschten

verrauschten platten, der harte schlussakkord

die falschen mittel, aber die echten strümpfe

und statt einer antwort das klacken eines zippos.

wer geht mit wem, wozu kinder, wozu die welt

die paare im raumanzug, der sich über die haut

flecken schiebt, die zukunft in weißen rahmen

 

© 2009 Gutleut Verlag, Frankfurt/Main und Weimar

 

 

René Hamann

DAS ENDE DER ARBEIT

 

milde, bekleckerte tage. eine verlorene schwester

eine vier-buchstaben-frau, die im wagen wartet.

am hafen die imbissbude, auch sie macht bald dicht

der parkplatz leert sich, die bögen sind gestempelt

es geht auf den abend zu. ein flackernder himmel

ein offen stehender mond. schwere, schwarze züge

vielleicht raben, die in die ferne ziehen. staub

der aus taschen rieselt, mitte august, der sommer

 

hat sich krank gemeldet, zwanzig grad. der gleichmut

der traktoristen, die zulieferfirmen der ölindustrie

der mangel an autan. ein junge aus plastik in einem zelt

aus lüge versucht für sich die apostolische nachfrage

zu klären: total oder texaco, die unerbittliche suche

nach dem entmüdungsbecken im stadion der weltjugend.

hedonistische tretmühle, berliner problemschule. niemand

ist allein, nicht für eine sekunde, auch andre erzählen

 

nicht alles, und über den dingen liegt der verdacht

handwerklicher schlamperei. die tore sind geöffnet

die bilder blieben an den schränken kleben, im spind

der jetzt auf dem busbahnhof steht, neben den fluchenden

die dumpf auf endlose möglichkeiten warten. ein

betagter, gähnender hund, ein mann, der einer rollstuhl

fahrerin ins ohr klagt: „es macht dich fertig” und weiter

geht zu den bettelnden punks: „ihr spielt nur eine rolle

 

ihr stellt auch bloß dar.” austausch von rezeptoren

antrainieren neuer subroutinen und abläufe. gefragt

werden ist besser als anbieten müssen, eine anzahl

von vermeidungen und schlick zwischen den zähnen

dreck auf den fässern. sie hatten augenduschen

bereit gestellt, für die fettgerüche, nasenpflaster

für die schwefelfälle, die verbrannten unterarme

waren weiter nicht schlimm, jetzt sind das verweste

 

wahrheiten, altlasten, an denen niemand mehr vorbei

defiliert. nur der onkel auf dem schreibtischstuhl

faselt noch von solidarität. die übertherapierten

auf der armenhochzeit winken ab, sie haben genug

gesehen: das ende der maschinen, sie laufen im kreis

alles nimmt ab, alles wird gefilmt. die städte fahren auf

und nieder, die polizei orientiert sich über das, was war:

simonie und nachschlagewerke, das ende der arbeit.

 

© 2009 Gutleut Verlag, Frankfurt/Main und Weimar

 
Achim Wagner / Köln / *1967
Letztes Buch: „vor einer ankunft“, yedermann, 2006, Gedichte
(ZURÜCK)

Achim Wagner

 

in weimar kamen die züge an bevor sie nach

buchenwald weitergeleitet wurden...

(nach der broschüre „Gedenkstätte Buchenwald“)

 

kuh/-frasz

bilder einer landpartie

 

                                                         für ralf werner

 

grün ringsum ein frisches jahrzehnt & schmieriges

glas + halbgeöffnete fenster im august ist der

morgendunst längst verzogen der zug erreicht

weimar 13uhr14 durch die straßen + gassen 

wandeln staubschluckende komparsen fahle

gestalten von weit her & niemand holt die

grünstichigen dichter vom sockel stillgestanden!

(stundenlang bis zum kollabieren) um 15uhr25

pünktlich mit dem bus nach rudolstadt 40 kilometer

weiter vorbei an den waldüberzogenen hügeln den

galgenbäumen thüringens früher waren wir hier

33.000 einwohner jetzt sind wir noch 29.000

bekundet eine einheimische auf neugieriges fragen

der osten verfällt langsam in den seitenstraßen

bröckelnde fassaden eingeschlagene scheiben &

alte gesichter ohne ausdruck blicken auf die jungen

die das staunen noch nicht verlernen wollen in

diesem gebäude verteidigte dr. karl liebknecht am

15.3.1907 das recht der arbeiterklasse gegen die

kapitalistische klassenherrschaft berichtet eine

gedenktafel am gerichtsgebäude & gelangweilt

lehnen sich drei taxifahrer in ihren fahrzeugen zurück

an der haltestelle vor dem kleinen bahnhof in den

17uhr30 bus linie 21 steigen noch ein blonder mann

& eine braunhaarige frau beide um die dreißig

behindert + wenige & unverständliche worte

wechselnd werden sie gemeinsam 10 kilometer

später an der haltestelle im dorf kuhfraß den bus

wieder verlassen dazwischen für zwei stationen

steigt ein weiterer fahrgast zu graubärtig

in zerschlissenes schwarz gekleidet ein kaninchen in

einem gitterkäfig in der linken hand mein frühstück

brummt er ungefragt nur bestaunt ((dr. karl

liebknecht verteidigte am 15.3.1907 in diesem

gebäude dr. karl liebknecht in diesem dr. karl

liebknecht verteidigte dr. karl liebknecht 1907 das

recht der arbeiterklasse 1907 gegen dr. karl

liebknecht am 15.3. gegen die kapitalistische

klassenherrschaft 1907 gegen dr. karl liebknecht in

diesem gebäude)) in großkochberg leert sich der bus

bis auf den fahrer keiner mehr drin wenige schritte

zum landschloß sex and crime vor über 200 jahren

spreizte ihre beine + stöhnte & intrigierte hier im

sommer besitzerin charlotte von stein

 

 

Achim Wagner

der insasse

 

beeile dich & komm rein hier hat’s platz für zwei

klang eine männliche stimme mit polnischem akzent

aus dem großen silbergrauen müllcontainer an den

ich mich gerade gelehnt hatte um eine zigarette zu

rauchen der deckel des containers wurde

zurückgeschoben ich blickte in ein mit bartstoppeln

übersätes vielleicht 50 jahre altes gesicht nun mach schon

wurde der tonfall eindringlich & muszt du

gleich leise sein ganz ganz still etwas verdutzt aber

nichtsdestoweniger neugierig mühte ich mich in den

abfallbehälter schnell schob der polnische insasse

den deckel wieder zu ließ ihn nur einen spaltbreit

offen damit unsere augen die vor uns liegende

straße einsehen konnten wenige sekunden später

waren laute martialische rufe & gesänge von beiden

seiten der straße zu vernehmen aus den häusern

strömten zumeist völlig in weiß gekleidete mit

knüppeln stöcken baseballschlägern schwertern

dolchen bewaffnete menschen die sofort aufeinander

losgingen bald kullerten abgetrennte köpfe über den

asphalt blieben einzelne arme finger hände ohren

liegen & schnell auch die ersten toten der geruch

frischen bluts schoß mir übelkeiterregend in die nase

circa eine viertelstunde dauerte der kampf ((jeder

gegen jeden wie es schien zumindest konnte ich bei

diesem mörderspiel kein muster erkennen)) ich

mußte mehrmals die augen schließen & war ständig

nahe dran war zu speien das schrille

markerschütternde geheul einer sirene beendete

abrupt die schlacht & die überlebenden

verschwanden die verletzten mit sich schleifend

wieder in ihre häuser raus nuschelte mein

nebenmann gleich kommt die müllabfuhr & räumt

die reste weg dann brauchen die auch diesen container

wenn die uns hier drinnen erwischen gibt’s ne menge

ärger & schon stand der pole mit beiden beinen auf

der straße er wartete nicht auf mich als ich mühsam

aus unserem versteck geklettert war & wieder

aufrechte haltung eingenommen hatte war er bereits

in eine gasse gebogen ich sah noch wie sich eine

kolonne orangefarbener städtischer fahrzeuge

näherte dann versuchte ich dem polen zu folgen

aber meine augen fanden ihn nicht wieder

 

 

Achim Wagner

 

nicht nixen nymphen sylphen musen oder feen

für dich will ich die motten verstehn

 

(einstürzende neubauten)

 

unterm leuchtturm

 

riechst du wie die stadt modert wie die stadt verwest in

den bahnen in den ecken hinter den büschen... hier saust

der hammer der hammer gegen franz biberkopf... splatter

haupt hirn haut splitter haupt stadt... juli hitze gewitter

regen gestern heute wo wir uns lieben in den nischen in

den verstecken wo wir uns keine namen geben wo wir aus

dem tag gehen & unsere erinnerungen lassen

((geschenke aus ihren verpackungen geschält unsere

körper))... ein kurzer dreckiger schwarzgrauer

staubsandsturm durch die warschauer straße

handgeschützte gesichter getriebene passanten

schuttstraße ostwärts gebeugte gebrochene äste

silhouetten auf der flucht aus den augen verloren über die

brücke wirbeln blätter füße flüche... beim berliner

leuchtturm am alex steigst du aus der unterwelt an meinen

mund & wir eilen für eine letzte nacht in ein grandhotel wo

wir unsere alten kleider ausziehen auswaschen

auswringen ((wo wir uns versuchen ergeben eindringen &

ergießen))... ssssssst saust der wind... ssssssst saust

der hammer ((die schlag zeilen lesen wir später auf einer fahrt

auf öffentlichen monitoren moabit mutter erschlägt kind &

danach das wetter von morgen das wetter von

übermorgen))... westwärts weiter westwärts...

hütchenspieler am einstigen prachtboulevard

reisegruppen konsumtouristen eine herde ((pfälzert

wienert baiert schwyzt))... den rücken halten wir uns frei

von unseren blicken von unseren gedanken & seitwärts

treten wir durch eine tür durch eine kamera in ein

zweistundenland film ((farben fahnen schwerter pinsel

pfeile liebe tod & violinen))... ssssssst saust der wind

ssssssst saust der hammer... unten am halensee treibt ein

kadaver mit schuppen auf dem wasser... treibt ein

zweiter... treibt ein dritter... mit der ringbahn kreisen wir

um die stadt wie gelassene entspannte motten die wissen

dass sie sich ihre flügel nicht mehr verbrennen können an

an der stadt an dieser überhitzten stadt die letzten

stunden hier zählen wir ab & blättern in reiseführern für

aussiedler... ssssssst saust der wind ssssssst saust der

hammer ssssssst sausen wir weg...

 

 

Achim Wagner

die zöllner

 

einen briefumschlag in der rechten hand ging paul

gedankenverloren richtung post halt befahl ihm eine

tiefe stimme plötzlich & paul stand vor einem

breitschultrigen vermummten mann in schwarzem

trenchcoat ab heute muss jeder der die strasse betritt

wegezoll bezahlen paul grinste guter scherz + wollte

weiter der mann drosch ihm die rechte zur faust

geballte hand auf die lippen paul wankte &

schmeckte blut der mann hielt die hand auf wie viel

fragte der geschlagene ist egal paul wühlte in seinen

taschen & drückte dem zöllner einige groschen in die

hand & der weg wurde freigegeben vermutlich ein

psychopath & wahrscheinlich hätte das alles noch

übler ausgehen können für seinen rückweg wählte

paul eine andere strasse & lief dem nächsten

trenchcoatzöllner in die hände dieser war wesentlich

schmächtiger als sein kollege aus der

sülzburgstrasse einen moment lang überlegte paul

ob er den typen einfach beiseite stossen & los laufen

sollte der schmächtige kerl zückte ein messer als ob

er gedanken lesen konnte & paul biss sich auf die

schmerzenden lippen zückte einen schein der

wortlos entgegen genommen wurde die zöllner

waren bald aus dem stadtbild nicht mehr weg zu

denken in den u- + s-+ strassenbahnen fand man sie

vor beinahe jede strasse beherbergte einen

vermummten mann in trenchcoat klaglos bezahlten

die städter einen meist geringen + beständigen

obulus ((stillschweigend hatte man sich auf zehn

pfennig pro begegnung mit einem zöllner geeinigt))

niemand beklagte sich oder hinterfragte die

anwesenheit der leute in den schwarzen trenchcoats

von der polizei blieben sie unbehelligt & das bewies

ausreichend die legitimation ihres tuns paul hatte im

tagesdurchschnitt 20 begegnungen mit den zöllnern

& auch er hatte sich widerstandslos mit der neuen

situation abgefunden bis ihm sein job gekündigt

wurde paul kaufte sich eine motorradfahrermaske &

einen schwarzen trenchcoat als er erstmals in dieser

montur auf die strasse ging trat ein zöllner auf ihn zu

nickte kurz & sagte die strassenbahnlinie 6 ist

unterbesetzt kassier dort ab paul nickte ebenfalls

kurz & knurrte alles klar

 
Engere Auswahl (alphabetisch)
 
Alexander Gumz / Berlin / *1974
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Alexander Gumz

ANS UNGELESENE

 

nur lücken in der luft: beschüsse mit buchstaben. das rattern

stämmiger maschinen. ein druckhaus steht im abendlicht:

 

verrat an upper class und vorstadtstraßen. nur wenige

umkämpfte blocks, hört man. geländer aus gelee.

 

die kredite nehmen uns bei der hand: nichts, meine herren,

spricht dann noch rückwärts mit uns. nichts wird am morgen

 

dementiert. wir lehnen am mikro, verschlucken versprechen,

die man uns auf dem hinflug gab. entziffern das kleingedruckte

 

an der wand. hören den kursen beim fallen zu.

 

 

Alexander Gumz

MÖNCHISCHE GEBÄRDEN

 

den kopf verschließen mit einem stückchen stoff.

drauf warten, dass jemand was zum verhalten

des gemeinen körpers sagt: krumm und

klebrig mit den jahren.

 

dass keiner mehr auf risiko spielt, ein paar stunden

ans morgengrauen verschenkt. an falsche ausfahrten,

enge kurven. an versuche, mit den zehen

das ende eines sees zu finden.

 

nein: die stille wird nie mehr so tapfer sein,

dass man dazu tanzen kann. auch mit dem schlafen

tun sich die synapsen schwer: eine drift

im mikroskopischen, heisst es.

 

hohe wahrscheinlichkeit, das wichtigste zu übersehen. 

sich nur daran zu freuen, dass nichts einmaliges

gestohlen wurde. das zerreißen eines schecks

sich nicht mehr alle paar sekunden wiederholt.

 

 

Alexander Gumz

KÜHLE ENTWICKLUNG

 

die mantelträger sehen bei dunkelheit ganz anders aus.

(wie beschissen, dass man so schief hingerichtet wurde.

 

dass man wirklich garnichts rückwärts kann. dass jeder gewinn

bloß neue peinlichkeiten bringt.) im dünnen licht

 

bleibt kaum was an den fingern kleben. was man abends

in den taschen sammelt, klickt, wenn es allein ist,

 

als nähzeug vor sich hin. (tagesanbruch: überdreht, beeindruckend,

aber ohne jede zuversicht.) auch die fensterscheiben frieren

 

(bekloppte interieurs). welchen geheimdiensten

soll man jetzt noch trauen? welche akten unterm tisch

 

verschwinden lassen? man kriegt ja nicht mal

was einem selbst gehört im rinnstein abgegeben.

 

 

Alexander Gumz

DIE KUNST DES ARCHIVS

 

in russland stecken sie spione kopfüber in die erde. international

werden die vergiftungen lauter. gesetze beginnen sich zu drehen.

 

welcher essay kommt da hinterher? morgenlicht wird hochgerechnet:

der beginn eines neuen verlusts. der pressesprecher formt seinen mund

 

zur mulde, seilt seine sekretärin langsam in eine höhle ab. das brechen

ihrer nackenwirbel ist hier oben kaum zu hören: baumelt in kleinen kreisen

 

vorm ohr herum. in deutschland vergraben sie zur selben zeit

handfeuerwaffen. spalten schädel, stutzen lippen. damit keiner mehr

 

im dunkeln pfeift. das ist die wahrheit, meine damen! wer abends

in seinem anzug leuchtet, muss nicht auch gut nach hause kommen.

 

 

Alexander Gumz

freedom of speech

 

die ranken der feuerleitern: da träumst du von. wie wir

immer weiter an den rand der stadt gefahren werden.

 

ganze landstriche bleiben kahl zurück. übergänge sind

auf unseren karten nicht verzeichnet. die regenzeit bricht an,

 

wir werden von unsichtbaren pranken in ein zugabteil gehoben.

sieh zu wie du da wieder rauskommst. knöpfe prasseln aufs dach.

 

die wartehallen dröhnen. wir reiben unsere zunge am gaumen,

versuchen, einmal im leben nach dem weg zu fragen.

 

was haben wir erwartet? dass die gleise blühen?

 
Claudia Gabler / Lörrach / *1970
Letztes Buch: „Die kleinen Raubtiere unter ihrem Pelz“, Rimbaud Verlag, Herbst 2008
(ZURÜCK)

Claudia Gabler

 

 

Die Struktur war mal wieder schneller als wir.

Wenn die Kioske und Fleischereien zumachen,

ist das mehr als bloß Feierabend, 

wenn wir nichts dazwischenwerfen,

ist das kein Urschrei.

Dann gibts Frisches nur noch vom Feld,

aber das ist mit Keimen und Schmerz versetzt.

Wir stellen die Brillen scharf,

wir erdolchen die Forellen und grillen die Hunde,

wir machen den Wald frei von wildem Getier,

das auf unsere Heidelbeeren uriniert.

Wir verlassen uns nicht, wir bedecken uns nicht,

wenn wir betrunken vom Sauerstoff

auf dem feuchten Moosboden ruhn.

Wir vermissen die Infrastruktur und unsere Nachrichten

und einzig die Post, die sich um Sendungen noch bemüht, 

hinterläßt einen wasserresistenten Computer in Gelb.

Wir dürfen die Räume jetzt nicht schließen,

wir müssen die Wachposten zivilisieren,

wir müssen ein neues Haus bauen mit Fenstern,

durch die man nach draußen sieht.

Wir müssen es schaffen, daß auch die Lehrer wandern.

 

Aus: „Die kleinen Raubtiere unter ihrem Pelz“, Rimbaud Verlag, Herbst 2008

 

 

Claudia Gabler

 

 

Die Endlosschleife des Fahrstuhls führte

direkt ins Internet. Während die angrenzenden Kulturen

 

öffentlich abgetragen wurden, applaudierten

Rezipienten erst gehorsam, später aus Trotz. Zur

 

Transparenz brauchte man also nicht mal eine

Kamera, die Zimmer waren auch so gut durchlüftet,

 

und wer hinauskam, wußte von seinen Beschädigungen. 

Wir nahmen uns hoch, schlossen alle Zeitfenster

 

auf einmal, schleppten die technischen Geräte

in die Geschäfte zurück, überzogen die jetzt brach

 

liegenden Gebiete dann mit unseren kleinen Gelenken.

Die Wohlstandsregionen rebellierten ein bißchen

 

zum Schutz zählte jemand laut die massive Struktur

der Wolken, trat demonstrativ in ihren Kernschatten,

 

wollte die Landschaft bestücken damit.

 

Aus: „Die kleinen Raubtiere unter ihrem Pelz“, Rimbaud Verlag, Herbst 2008

 

 

Claudia Gabler

 

 

Wenn Wohnungen nur Ware sind, liegen Territorien nah.

Wir hängten also Glühbirnen an die Wände,

 

die leer waren, und wollten so die Bedeutung unserer Vitrinen

markieren. Wir suchten fremde Habseligkeiten

 

in unserer Umgebung dechiffrierte sich manchmal ein Monitor. 

Jemand imitierte das königliche Winken

 

und choreographierte gleichzeitig die Akustik von Oralverkehr.

Wir wiesen auf die Subtexte dieser Bespielung, aber man

 

verwechselte uns mit einem anatomischen Modell.

Adjektive als Lösungsansätze, die Farbe unserer T-Shirts,

 

Gewinne durch Nahrungsverweigerung. Eine gut

ausgeleuchtete Kampfarena, die man mit viel Geld und doch

 

nicht verlassen konnte. Irgendetwas stimmte

mit unseren Geschlechtern und Haarschnitten. Der Markt

 

dokumentierte unsere Resistenzen. Wir kämpften

für unsere Güter, aber die Gelmasken erschwerten wie immer

 

die Grenzübertritte.

 

Aus: „Die kleinen Raubtiere unter ihrem Pelz“, Rimbaud Verlag, Herbst 2008

 
Clemens Schittko/ Berlin / *1978
 
(ZURÜCK)

Clemens Schittko

07.05.2008 // Lieber Literaturbetrieb,

 

 

           I

 

Das Gedicht will nicht abgelehnt werden.

Es will – weiterhin – ablehnen.

 

           II

 

Seitdem ich das so genannte ALG II beziehe,

fühle ich mich wie ein freischaffender Autor.

(Der Staat ist auch nur ein Unternehmen.)

 

           III

 

Was du Wende nennst,

war nichts als ein Wegwerfen von Büchern

(weit weniger Exemplare

wurden unter den Nazis verbrannt).

Die verwaisten Stellen in den Regalen

sind heute mit Aktenordnern besetzt.

 

          IV

 

Der Staat sind wir, wir alle.

Aber: Ich bin mein Gedicht.

 

Dein Schittko

 

Erstveröffentlichung in ENTWERTER/ODER. (Berlin). 95 (2009)

 

 

Clemens Schittko

P.C.-Fuge in deutsch-Moll

 

 

es ist was es ist

sagt es war was es war

sagt es wird was

es wird sowieso

 

es ist was es ist sagt

was gewesen ist

ist gewesen sagt

was sein wird

wird sein sowieso

 

es ist was es ist sagt

was gewesen war

war gewesen

und sagt was

es ist sowieso

 

sei es was es sei

wäre es was es wäre

werde es was es werde

 

was gewesen sei

sei gewesen

was sein würde

würde sein

was gewesen wäre

wäre gewesen

 

es ist was

es ist

sagt es

eins und zwei

oder drei

 

Erstveröffentlichung in ENTWERTER/ODER. (Berlin). 95 (2009)

 

 

Clemens Schittko

Kleines personenbezogenes Gedicht

(ohne lyrisches Ich)

 

 

Familienname/ggf. Geburtsname: Schittko

Vorname: Clemens

Geschlecht: männlich

Geburtsdatum: 09.12.1978

Geburtsort: Berlin

Geburtsland: DDR

Staatsangehörigkeit: deutsch

Straße: Krossener Straße

Hausnummer: 12

Postleitzahl: 10245

Wohnort: Berlin

Telefonnummer: 030/50180383

E-Mail-Adresse: clemensschittko@yahoo.de

Bankverbindung: ***

Familienstand: ledig

 

Erstveröffentlichung in ENTWERTER/ODER. (Berlin). 95 (2009)

 

 

Clemens Schittko

Vokabel-Vorschläge für die jüngere/n

und jüngste/n deutschsprachige/n

Lyrik/erInnen

                                  „Jetzt kann man schreiben, was man will.“

                                                                           Oskar Pastior

 

                                                                         „Was soll das?“

                                                                         Florian Neuner

(...)

 

III

 

einen Angriffskrieg vorbereiten / zum Angriffskrieg aufstacheln

 

den Bund und ein anderes Land hoch-verraten / ein

hochverräterisches Unternehmen vorbereiten

 

eine für verfassungswidrig erklärte Partei fortführen / gegen ein

Vereinigungsverbot verstoßen / Propagandamittel

verfassungswidriger Organisationen verbreiten / Kennzeichen

verfassungswidriger Organisationen verwenden / zu

Sabotagezwecken als Agent tätig sein / eine verfassungsfeindliche

Sabotage bewirken / auf Bundeswehr und öffentliche

Sicherheitsorgane verfassungsfeindlich einwirken / den

Bundespräsidenten sowie den Staat und seine Symbole

verunglimpfen / Verfassungsorgane verfassungsfeindlich

verunglimpfen

 

Landesverrat begehen / Staatsgeheimnisse landesverräterisch

ausspähen, auskundschaften und offenbaren / illegale Geheimnisse

(ggf. in irriger Annahme) verraten / landesverräterisch und

geheimdienstlich als Agent tätig sein / friedensgefährdende

Beziehungen aufnehmen und unterhalten / landesverräterisch

Fälschung betreiben

 

Organe und Vertreter ausländischer Staaten angreifen und

beleidigen / Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten

verletzen

 

Verfassungsorgane sowie den Bundespräsidenten und Mitglieder

eines Verfassungsorgans nötigen / die Tätigkeit eines

Gesetzgebungsorgans stören / Wahlen behindern und fälschen /

Wahlunterlagen fälschen / das Wahlgeheimnis verletzen / Wähler

nötigen, täuschen und bestechen

 

sich durch Verstümmelung und Täuschung der Wehrpflicht entziehen

/ Störpropaganda gegen die Bundeswehr verbreiten /

Verteidigungsmittel sabotieren / einen sicherheitsgefährdenden

Nachrichtendienst betreiben / sicherheitsgefährdende Abbildungen

und Beschreibungen anfertigen / jemanden für einen fremden

Wehrdienst anwerben

 

öffentlich zu Straftaten auffordern / Widerstand gegen

Vollstreckungsbeamte und gegen Personen, die

Vollstreckungsbeamten gleichstehen, leisten / Gefangene befreien /

als Gefangener meutern

 

den Haus- und Landesfrieden (ggf. schwer) brechen / den

öffentlichen Frieden durch Androhung von Straftaten stören /

bewaffnete Gruppen sowie (ggf. im Ausland) kriminelle und

terroristische Vereinigungen bilden / das Volk verhetzen / zu

Straftaten anleiten / Gewalt darstellen / sich Ämter(n) anmaßen /

Titel, Berufsbezeichnungen und Abzeichen missbrauchen / die

Verwahrung sowie Verstrickungen und Siegel brechen / amtliche

Bekanntmachungen verletzen / geplante Straftaten nicht anzeigen /

Straftaten belohnen und billigen / sich unerlaubt vom Unfallort

entfernen / Notrufe missbrauchen und Unfallverhütungs- und

Nothilfemittel beeinträchtigen / gegen Weisungen während der

Führungsaufsicht und gegen das Berufsverbot verstoßen / eine

Straftat vortäuschen

 

Geld und Wertzeichen fälschen / Falschgeld in Verkehr bringen / die

Fälschung von Geld und Wertzeichen vorbereiten / Zahlungskarten,

Schecks und Wechsel sowie Zahlungskarten mit Garantiefunktion

und Vordrucke für Euroschecks fälschen

 

uneidlich falsch aussagen / Meineid begehen / eine falsche

Versicherung an Eides Statt abgeben / jemanden zu einer

Falschaussage verleiten

 

jemanden falsch verdächtigen

 

Bekenntnisse, Religionsgesellschaften und

Weltanschauungsvereinigungen beschimpfen / die

Religionsausübung, die Totenruhe und Bestattungsfeiern stören

 

jemandes Personenstand fälschen / die Unterhalts-, Fürsorge- und

Erziehungspflicht verletzen / eine Doppelehe mit jemandem

schließen / Beischlaf mit einem Verwandten vollziehen

 

Schutzbefohlene, Gefangene, behördlich Verwahrte, Kranke und

Hilfebedürftige in Einrichtungen, Kinder und Jugendliche,

widerstandsunfähige Personen sowie jemanden unter Ausnutzung

einer Amtsstellung und unter Ausnutzung eines Beratungs-,

Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses (ggf. schwer respektive

mit Todesfolge) sexuell missbrauchen / jemanden (ggf. mit

Todesfolge) sexuell nötigen und vergewaltigen / sexuelle

Handlungen Minderjähriger fördern / Prostituierte ausbeuten /

zuhälterisch handeln / sich exihibitionieren / öffentliches Ärgernis

erregen / pornographische, gewalt- und tierpornographische

Schriften sowie pornographische Darbietungen durch Rundfunk,

Medien- und Teledienste verbreiten / kinder- und

jugendpornographische Schriften verbreiten, erwerben und besitzen /

verbotene Prostitution ausüben / Jugendliche durch Prostitution

gefährden

 

jemanden beleidigen / jemandem übel nachreden / jemanden

verleumden / Personen des politischen Lebens übel nachreden und

verleumden / das Andenken eines Verstorbenen verunglimpfen

 

die Vertraulichkeit des Wortes, jemandes höchstpersönlichen

Lebensbereich durch Bildaufnahmen, das Brief-, Post- und

Fernmeldegeheimnis sowie Privatgeheimnisse verletzen / Daten

ausspähen und abfangen / das Ausspähen und Abfangen von Daten

vorbereiten / fremde Geheimnisse verwerten

 

jemanden ermorden / jemanden (ggf. in einem minder schweren Fall)

totschlagen / jemanden auf Verlangen töten / eine Schwangerschaft

abbrechen / für den Abbruch einer Schwangerschaft werben / Mittel

zum Abbruch einer Schwangerschaft in Verkehr bringen / jemanden

aussetzen / jemanden fahrlässig töten

 

jemanden (ggf. gefährlich, schwer, fahrlässig respektive mit

Todesfolge) körperlich verletzen / Schutzbefohlene misshandeln /

sich an einer Schlägerei beteiligen

 

zum Zweck der sexuellen Ausbeutung sowie der Ausbeutung der

Arbeitskraft mit Menschen handeln / den Menschenhandel fördern /

Menschen rauben und verschleppen / jemandem Minderjährige

entziehen / mit Kindern handeln / jemandem nachstellen / jemandes

Freiheit berauben / erpresserisch Menschen rauben / Geiseln

nehmen / jemanden nötigen, bedrohen und politisch verdächtigen

 

(ggf. in einem besonders schweren Fall, mit Waffen, innerhalb einer

Bande respektive im Zusammenhang mit einem Wohnungseinbruch)

stehlen / unterschlagen / stehlen und unterschlagen geringwertiger

Sachen / unbefugt ein Fahrzeug gebrauchen / einer elektrischen

Anlage elektrische Energie entziehen

 

(ggf. schwer respektive mit Todesfolge) rauben / räuberisch stehlen /

jemanden (ggf. räuberisch) erpressen

 

jemanden begünstigen / (ggf. als Amtsträger) vereiteln, dass jemand

wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft wird / (ggf. gewerbsmäßig

respektive innerhalb einer Bande) hehlen / Geld waschen /

unrechtmäßig erlangte Vermögenswerte verschleiern

 

(ggf. unter Verwendung eines Computers, bei der Bewilligung von

Subventionen und Krediten sowie im Zusammenhang mit

Kapitalanlagen) betrügen / eine versicherte Sache, Schecks und

Kreditkarten sowie Vermögensinteressen missbrauchen / sich

Leistungen erschleichen / fremdes Vermögen veruntreuen /

Arbeitsentgelt vorenthalten und veruntreuen

 

Urkunden, technische Aufzeichnungen und beweiserhebliche Daten

sowie Gesundheitszeugnisse fälschen / unrichtige

Gesundheitszeugnisse ausstellen und gebrauchen / im

Rechtsverkehr bei der Datenverarbeitung täuschen / Dokumente

mittelbar falsch beurkunden / amtliche Ausweise und

Grenzbezeichnungen verändern / Urkunden unterdrücken / die

Fälschung von amtlichen Ausweisen, aufenthaltsrechtlichen

Papieren und Fahrzeugpapieren vorbereiten / sich falsche amtliche

Ausweise, aufenthaltrechtlichte Papiere und Fahrzeugpapiere

beschaffen / Ausweispapiere missbrauchen

 

(ggf. in einem besonders schweren Fall) den eigenen Bankrott

herbeiführen und Bestandteile des eigenen Vermögens der

Insolvenzmasse entziehen / die Buchführungspflicht verletzen /

Gläubiger und Schuldner begünstigen

 

unerlaubt Glücksspiele, Lotterien und Ausspielungen veranstalten /

sich unerlaubt an Glücksspielen beteiligen / eine

Zwangsvollstreckung vereiteln / ein Pfand-, Nutznießungs- ,

Gebrauchs- oder Zurückbehaltungsrecht vereiteln / Pfandsachen

unbefugt gebrauchen / wuchern / Jagd- und Fischwilderei betreiben /

Schiffe, Kraft- und Luftfahrzeuge durch Bannware gefährden

 

wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Ausschreibungen

treffen / (ggf. in einem besonders schweren Fall) im geschäftlichen

Verkehr jemand anderen bestechen respektive sich bestechen

lassen

 

Sachen (ggf. gemeinschädlich) beschädigen / Daten verändern /

Computer sabotieren / Bauwerke und wichtige Arbeitsmittel

zerstören

 

Brände (ggf. schwer, besonders schwer, mit Todesfolge respektive

fahrlässig) stiften / eine Brandgefahr, eine Explosion durch

Kernenergie und eine Sprengstoffexplosion herbeiführen /

ionisierende Strahlen missbrauchen und freisetzen / ein Explosions-

oder Strahlungsverbrechen vorbereiten / eine kerntechnische Anlage

fehlerhaft herstellen / eine Überschwemmung herbeiführen / Wasser

gemeingefährlich vergiften / gefährlich in den Bahn-, Schiffs- , Luft-

und Straßenverkehr eingreifen / den Bahn-, Schiffs-, Luft- und

Straßenverkehr gefährden / infolge von Trunkenheit im Verkehr ein

Fahrzeug führen / einen Kraftfahrer räuberisch angreifen /

Telekommunikationsanlagen und öffentliche Betriebe stören /

Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr verüben / wichtige Anlagen

beschädigen / die Entziehungskur eines anderen sowie einen Bau

gefährden / im Vollrausch eine rechtswidrige Tat begehen /

Hilfeleistung unterlassen

 

unbefugt ein Gewässer, den Boden und die Luft verunreinigen /

Lärm, Erschütterungen und nichtionisierende Strahlen verursachen /

unerlaubt mit gefährlichen Abfällen, radioaktiven Stoffen sowie

anderen gefährlichen Stoffen und Gütern umgehen / unerlaubt eine

kerntechnische Anlage betreiben / schutzbedürftige Gebiete sowie

andere durch Freisetzen von Giften schwer gefährden / in einem

besonders schweren Fall eine Umweltstraftat begehen

 

(...)

 

 

Clemens Schittko

Grundlinkes

 

                                               für A.C., B.K. und B.P.

 

Die Würde des Menschen

wird angetastet.

Die Persönlichkeit eines jeden

entfaltet sich nicht,

schon gar nicht frei.

Nicht jeder hat ein (wirkliches) Leben

und ist körperlich unversehrt.

Die Freiheit der Person

wird verletzt.

Nicht alle Menschen

sind vor dem Gesetz gleich.

Männer und Frauen

sind nicht gleichberechtigt.

Menschen werden wegen ihres Geschlechts,

ihrer Abstammung, ihrer Rasse, ihrer Sprache,

ihrer Heimat und Herkunft, ihres Glaubens,

ihrer religiösen oder politischen Anschauung

benachteiligt oder bevorzugt.

Menschen werden

wegen ihrer Behinderung

benachteiligt.

Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens

und die Freiheit des religiösen

und weltanschaulichen Bekenntnisses

werden verletzt.

Die ungestörte Religionsausübung

wird nicht gewährleistet.

Menschen werden gegen ihr Gewissen

zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen.

Nicht jeder darf seine Meinung

in Wort, Schrift und Bild

frei äußern und verbreiten

und sich aus allgemein zugänglichen Quellen

ungehindert unterrichten.

Die Pressefreiheit

und die Freiheit der Berichterstattung

durch Rundfunk und Film

werden nicht gewährleistet.

Eine Zensur findet statt.

Kunst und Wissenschaft,

Forschung und Lehre

sind nicht frei.

Ehe und Familie

stehen unter keinem besonderen Schutz

der staatlichen Ordnung.

Über die Pflicht der Eltern

zur Pflege und Erziehung der Kinder

wacht nicht die staatliche Gemeinschaft.

Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten

werden Kinder von der Familie getrennt.

Nicht jede Mutter genießt den Schutz

und die Fürsorge der Gemeinschaft.

Das gesamte Schulwesen

steht nicht unter Aufsicht des Staates.

Lehrer werden gegen ihren Willen verpflichtet,

Religionsunterricht zu erteilen.

Nicht alle Deutschen

dürfen sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis

friedlich und ohne Waffen versammeln.

Nicht alle Deutschen

dürfen Vereine und Gesellschaften bilden,

schon gar nicht zur Wahrung und Förderung

der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.

Das Briefgeheimnis

sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis

werden verletzt.

Nicht alle Deutschen

genießen Freizügigkeit

im ganzen Bundesgebiet.

Nicht alle Deutschen

dürfen Beruf, Arbeitsplatz

und Ausbildungsstätte

frei wählen.

Menschen werden

zu einer bestimmten Arbeit gezwungen.

Die Wohnung wird verletzt.

Das Eigentum und das Erbrecht

werden nicht gewährleistet.

Eigentum verpflichtet nicht;

sein Gebrauch dient nicht

dem Wohle der Allgemeinheit.

Eine Enteignung,

die dem Wohle der Allgemeinheit dient,

ist nicht zulässig.

Grund und Boden,

Naturschätze und Produktionsmittel

werden nicht zum Zwecke der Vergesellschaftung

in Gemeineigentum oder in eine andere Form

der Gemeinwirtschaft überführt.

Die deutsche Staatsangehörigkeit

darf entzogen werden,

wenn der Betroffene durch den Verlust

staatenlos wird.

Deutsche werden

an das Ausland ausgeliefert.

Politisch Verfolgte

genießen kein Asylrecht.

Nicht jedermann darf sich einzeln

oder in Gemeinschaft mit anderen

schriftlich mit Bitten oder Beschwerden

an die zuständigen Stellen

und an die Volksvertretung wenden.

Der Rechtsweg ist ausgeschlossen,

und ohne Gewähr

sind (wie immer) die Angaben.

 
Gerald Fiebig / Augsburg / *1973
 Letztes Buch: „der foltergarten“, 2006
(ZURÜCK)

Gerald Fiebig

maschendraht

 

die weltgeschichtliche niederlage

des weiblichen geschlechts

aus dem geiste der

 

bestrickenden maschen

mit denen das beste wollschaf

des zaunkönigs umgarnt wird

 

& kaum 5000 jahre (lang

& schal wie ein schal

in der bartlänge des bärtigen

 

ahnvaters oder propheten) später

am gekachelten holzpizzabachofen sitzen

zwei mutterrechts zwei hyperlinks

 

auf der internettauschbörse

für familienstrickmuster:

die alte masche mit den zöpfen

 

neu vernähen & dabei doch

gut abschneiden (nur ja

keine patchwork-begegnung

 

von deutschem regenschirm

& türkischer nähmaschine

in der staatlichen grundschule:

 

heilige maria montessori, bitte für uns

jetzt & für unsere kinder in der stunde

des übertritts aufs gymnasium)

 

die geburt der familie, des privat-

(lebens)eigentums & des staates aus dem

wollknäuel des theseus

 

mit dem er ariadne minoziös aufgerollt

einwickelte (apokryph) & sie bestrickte

ihn bis sie den faden verlor

 

wie penelope die aber verstrickte

sich gar nicht weil sie weberin

war & einen text fabrizierte

 

den die freier (da halfen – texte veut dire

tissu – keine tissue-taschentücher,

beim inexistenten barte des barthes!)

 

nicht vermochten zu lesen (aber freier

als strickerinnen sind stricher

auch nie gewesen: saint genet,

 

bitte für die mundtot gemachten

– töten, von gloeden –

aus den abgefuckten – aber sowas

 

von tote metapher! – pasolinipornos

mit dem feuerquallendekor

an den stränden arkadiens: et ego

 

ismus mit narzisstischer störung)

doch trennte sie zwar nachts ihr gewebe

doch niemals die bindung ans garn

 

des gatten mit dem er die geschichte

abspulte die sich sodann

blindlings bis zu den simpsons

 

(homer & marge-inalie, beim barte

des bart!) zusammenspann

in epischer breitseite

 

im haus der gehängten in meiner heimat

where the dead walked

and the living were made of cardboard

 

murmelte der alte mit dem bart in den selbigen

als die insel lesbos (wiederum apokryph)

sich hinter der schrottreifen flotte vergraoulte

 

wie ein nordatlantisches bündnis im mal-

kurs oder strickstrom des subjekt-

(& was ist dann mit dem geschlecht?)

 

losen prozesses des transnationalen

finanzkapitals dieser laufmasche

geschichtlich verstrickt

 

dieser von analysten oral

entflochtenen wirksamkeit

der ware die immer fadenschein

 

haft erwirkt gegenüber der wirkware

der heckenschützenstiftungen

mit heißer naddel gestrickt

 

auf dem bildschirm die brüste

von germaniens nächstem toposmodell

& die strengen kostüme

 

der kanzlerin sind zwei seiten

desselben sparstrumpfs

mit zahlreichen losen enden

 

(& da gibt es keinen schnellen ausweg,

da gibt es nur tote frauen: die von

Althusser, Baader, Charles manson:

 

ein ABC-festival, das im massengrab endet)

wenn onkel dagobert als strickleiter

die orgonakkumulation anführt

 

weil er lange vor wilhelm reich war

& weil es nicht reicht, junggeselle

kinderlos, schwuler & gruppenmitglied

 

zu sein (gilles deleuze, bitte für mich

verdächtiges lyrisches subjekt von den gnaden

des vom führer approbierten gelehrten

 

schriftleiters für die krankheiten

von haut & geschlecht, doktor gottfried faust,

jetzt & in der stunde meines todes:

 

ich zitiere – dich! – nur aus liebe)

um ödipus & homer & diesem ganzen

olymp-geschlamp zu entkommen

 

wo die sexuelle revolution der einen gene-

ration die nächste rektal (mit ver-

oder eichenlaub – „ich bin schwul,

 

also kann ich kein nazi sein“)

rationiert & die fleischliche lust auf geflügel-

brühe einbrüht bis einem vor lauter

 

speichelleckerei am selben alten stiefel

das wasser zusammenläuft im oral

überdeterminierten sprachzentrum

 

schon völlig geliefert unterm dauerbeschuss

von folklore & landesväterlichem

muttersprachunterricht, mothers fugger,

 

ihr bleiche leichen mit schwarzen abzeichen:

die explosion findet nicht heute statt.

es ist zu früh ... oder zu spät – frantz

 

fannin’ the flames, but baby won’t burn:

denn der kapitalstrom ist ein malstrom,

ein wildwasser aus einer sintflut aus tränen-

 

kanaldruck, der uns sein strickmuster aufdrückt.

doch am ende drehn wir die spießer

um dass sie sich drehen wie spieße

 

von dönerfleisch in einem gyros aus durchsichtigem

glasfleisch & nennen beim namen den strick

im haus des gehängten

 

ziehen dem kaiser die neuen kleider aus

& das fell über die ohren wir hängen

60 jahre am strick & zappeln, aber

 

wir werden uns losschneiden. sagt

der dichter. sagt die frau: meinetwegen!

ihr werdet deswegen nicht heller sehen.

 

die strickmusterbogen ausreißen & anzünden.

& was tun, wenn’s brennt?

öl reingießen.

 
Jana Barthel/ Kater Lezmann / Halle(Saale)/ *1983
 
(ZURÜCK)

Jana Barthel / Kater Lezmann

 

1

 

Ich will nicht nach Timbuktu

T. ist viel zu klein

eine Wäschekammer

wo ich doch in Schlössern aufgewachsen bin

man mir jeden Wunsch von den augen ablesen kann

schau nur hin

ich zeig sie dir

kalte Schulter

 

2

 

Diskussion: Kinderspielzeug, ich bin Designer

 

Wir denken an alles,

Fernsehen, Erziehung, Intelligenz.

Doch am Ende

ist man sich sicher:

das kommt ganz darauf an

wie ätzend

 

3

 

Der Bauer reitet

stehend

den Trekker der pflügt

 

ich ein Kuchenblech im Schnee

10 meter nicht weiter

 

blaue Flecken und die Ernte

the ever blazin beat

davorn geht’s geradeaus

 

4

 

has it come to this

na. alles klar

spannend hier

wir sehen uns.

 

Ich lecke am Boden und denke Lebensmittelvergiftung.

 

5

 

nachts fressen die Rehe das moos von den Türen

und mücken

 

die Oma kocht Stachelbeeren ein

wenns dunkel ist

 

kann sie nicht mehr schlafen

aus Gewohnheit

 

früher hat sie erzählt

von den Russen als das Haus noch bewohnt war, gerne

 

sie macht Stücke

mit rissigen Händen

beim dritten Anlauf fällt ihr mein Name ein

 
Lars-Arvid Brischke / Berlin / *1972
Letztes Buch „eine leichte acht“, Lyrikedition 2000, 2006
(ZURÜCK)

Lars-Arvid Brischke

184 krawatten für gerhard schröder

 

eine rote krawatte

eine glatte krawatte

eine krawatte aus gold

zusammengerollt

eine schwarz gefärbte krawatte

eine geerbte krawatte

eine olle krawatte aus baumwolle

eine arbeiterkrawatte die vater trug durch die not

eine tolle krawatte passend zur hose

eine krawatte um abzuwarten

eine krawatte aus der dose

eine schattige krawatte für den garten

eine unbehelligte krawatte

eine rosige krawatte

eine echte krawatte

eine unbeteiligte krawatte

eine schleierhafte krawatte

eine krawatte von bestechender logik

eine krawatte zum durchstarten

eine kanzleikrawatte

eine kleinkarierte krawatte

eine krawatte die nichts bescheinigt

eine krawatte die nichts bereinigt

eine krawatte für besserverdienende

aber eine krawatte die nichts beschönigt

eine krawatte zur reihenhaus-einweihungsfeier

eine rund um die uhr beschattete krawatte

eine innovative krawatte

eine bleierne krawatte

eine bügelfreie krawatte die auch nur ein schlips ist

eine wiedererkennungskrawatte für frogs (friends of gerhard schröder)

eine steuerfreie krawatte

eine rosarote krawatte

eine barrierefreie krawatte

eine krawatte der toleranz

eine glänzende rote karrierekrawatte

eine krawatte als rattenschwanz

eine krawatte made in china

eine krawatte gebunden mit ruhiger hand

eine krawatte fürs kanzleramt

eine rot lackierte krawatte die über uns allen weht

eine krawatte fürs vaterland

eine rotgrüne krawatte

eine krawatte pro bundestagsdebatte

eine krawatte kontra

eine demokratische krawatte

eine demokrakrawatte

eine demo kra kra watten tatte

eine demo kra kra kra wattat tata!

eine demokratenkrawatte

eine demo-krawatte

eine büro-krawatte

eine bürokratenkrawatte

eine gute-taten-krawatte

eine humanitäre kaschmir-krawatte

eine tarnkappenkrawatte über belgrad

eine stark gerötete krawatte

eine sozialedemokratische krawatte deutschlands

eine krawatte aus dem rohstoff gehirn

eine aus russland importierte krawatte

eine krawatte mit ostseepipeline

eine krawatte aus feinstem zwirn

eine genossenkrawatte für bosse

eine kraftwatte

eine wasserkraftwatte

eine kohlekraftwatte

eine windkraftwatte

eine unterschriftenkrawatte im atomkonsens

eine krawatte aus dem stoff

aus dem die schäume gemacht sind

eine nach russland exportierte krawatte

eine krawatte für den kraftakt

eine krawatte die die probleme anpackt

eine enorme reformkrawatte

eine sozialkritische krawatte

aber diese krawatte ist ja nackt

eine krawattenkarafatte

eine krafattate

eine demokratschende graffitifatte

eine krafatti kra-ra

eine klaffende krawatte

eine gaffende krawatte

eine starrende krawatte

eine klampfende krawatte

eine krampfende krawatte

eine kämpfende krawatte

eine dämpfende krawatte

eine dampfende krawatte

eine gedünstete krawatte

eine bedienstete krawatte

eine beamtete krawatte

eine krawatte aus watte

eine günstige krawatte

eine kritische krawatte gegen linke krawalle

eine richtige krawatte für alle

eine fußballerkrawatte für ein spiel gegen roboter

eine blassrote krawatte

eine krawatte kurz vor der pleite

eine krawatte für philipp holzmann

eine kirch-krawatte

eine krawatte für den spiegel

eine krawatte für die nabelschau

eine krawatte für die sich keiner zu schämen braucht

eine schemenhafte krawatte

eine krawatte mit der man zigarren raucht

eine krawatte die plötzlich aus dem nichts auftaucht

eine stilvolle krawatte ohne gedöns

eine krawatte für die hannovermesse

eine weltmeisterkrawatte - basta

eine online-krawatte für kinder & inder

eine open-air-krawatte

eine adoptierte krawatte

eine krawatte mit crevetten

eine krawatte gegen den rinderwahn

eine freilandkrawatte

eine krawatte statt einer serviette

eine gleichgeschaltete krawatte

eine brüderliche krawatte für frere jaques

eine veraltete krawatte

eine tony-krawatte tonight

eine rechtzeitig ausgeschaltete krawatte

eine krawatte die bush in den schatten stellt

eine langfristig ausgestaltete krawatte

eine krawatteattrappe für den frieden der welt

eine gestärkte krawatte

eine großkrawatte

eine krawatte die wladimir gefällt

eine geflickte krawatte aus vierter ehe

eine krawatte vor der zerreißprobe

eine hände-in-den-schoß-krawatte

eine apathische krawatte

eine salomonische krawatte

eine durchgreifende krawatte

eine geheime krawatte für den sondereinsatz im irak

eine allumfassende krawatte

eine krawatte nach der zerreißprobe

eine krawatte für hartz eins zwei drei vier

eine krawatte zum zähneausbeißen

eine camouflage-krawatte für den empfang am hindukusch

eine krawatte aus granit

eine krawatte aus beton

eine ehrgeizige krawatte 20-10

eine krawatte mit widerhaken

eine krawatte aus weißen laken

eine schweißnasse krawatte die troff

eine zupackende krawatte im zoff

eine krawatte mit gummistiefeln im schlick

eine krawatte für den fall eines falls

eine krawatte die zu eng ist am hals

eine krawatte die mit der zeit in eine albernheit ausartet

eine krawatte die in der luft liegt

eine krawatte die in die luft fliegt

eine ausgefranste krawatte zum durchregieren

eine krawatte mit der sich die vertrauensfrage stellt

eine herbeigeredete krawatte

eine zugespitzte krawatte

eine krawatte zum abnicken

eine farblose krawatte

eine krawatte zum einknicken

eine krawatte die neuwahlen will

eine krawatte zum abwinken

eine krawatte mit der sich erneut die vertrauensfrage stellt

eine krawatte mit latte

eine krawatte macchiato

eine krawatte vibrato

eine krawatte in ihrer schwersten stunde

eine krawatte in der elefantenrunde

eine geschmacklose krawatte die auf ein belegtes brötchen geraten ist

eine durchsichtige krawatte

eine krasse krawatte nach der entlassung

eine krawatte mit insider-kreisen

eine krawatte mit planquadraten

eine krawatte zum bedecken der geheimratsecken

eine durchscheinende krawatte

eine verblichene krawatte

eine rostrote krawatte

eine weißblaue krawatte aus zürich

eine krawatte von ringier signiert

eine mausetote krepppapierkrawatte

eine krawatte mit polnischen totenschädeln

eine schwarze krawatte mit roten smileys

eine krawatte mit mehreren schalen

eine krawatte zum bar bezahlen

eine autobiographische krawatte aus deutschland

eine krawatte am ziel

& keine krawatte zuviel.

 

 

Lars-Arvid Brischke

elternhaus, spieltheoretisch

 

 

die kontostände der familie

sind nicht immer transparent. mutter

möchte flüssig bleiben, zahlt sich aus für

haut & haar die lukrative

abwrackprämie ihre stirn

geboten hat sie vater. vater

aber nimmt sie nie

für bare münze, macht sich

über ebay lieber

selbst zur ware oder dreht

im bad den geldhahn auf. ich

als pokerbroker stürz mich

auf die altbewährte währung die

mich vereinnahmt & mich stützt, mutter

mutter locker wie sie ist verzockt sich

nie geht sie ans eingemachte, vater

vater spekuliert auf raten

letzte chancen zu verbraten

wenn ein kuss im keller ist

setzt er

alles auf sein sofa schließlich

kommen einmal jährlich zins

& zinseszinsen um mit geld

den kreislaufkollaps zu kaschieren.

 

 

Lars-Arvid Brischke

totentanz s.m.

 

scheveningen pompstationsweg. schallmauern reden.

feldstecher reden. verwackelte sekunden reden.

fesselnde hektik in mimik & gestik. eingepferchte

dünen reden. nacht & nebel sind auf sendung.

der angeklagte ist geliefert ist gefragt.

 

handlanger helfen mit. versprengte helden

helfen mit. spitznamen erinnern sich. zirkelschlüsse

sind der beweis. schmerzverzerrte brückenköpfe.

befehle & quälende apparatschiks

helfen sich mit einer neuen identität.

der angeschlagene beklagt sich & fragt sie aus.

 

eine serie von zerfallsprozessen. aus der medienlandschaft

nicht wegzudenken. truppen die sich dagegen stemmten

überschwemmen die kanäle. egal, ob es exhumierungen gibt

der gesichtsverlust ist absehbar. insider wissen es. generäle

wissen es. mikrofone werden zum schweigen gebracht

wenn der ex-oberbefehlshaber die nahaufnahmen hinterfragt.

 

seilschaften wissen nicht weiter. fernsehanstalten wissen nicht weiter.

erschöpfte beobachter wissen nicht weiter. massaker wissen nicht

wer sie verübt hat. jedes kreuzverhör ein jojo-effekt.

ahnungslose blutgefäße. die pflichtverteidiger wissen nicht weiter:

der ex-präsident verteidigt sich selbst.

 

wer provozierte den extremen blutdruckschwund.

wie ist die doppeldosis in den mann gekommen.

wer wollte die einfache fahrt nach moskau.

wer würde dafür einen herzinfarkt risikieren.

wer wird für diesen todesfall verantwortlich zu machen sein.

 

gerüchte reden weiter. laudatien reden weiter. tiraden reden weiter.

die verantwortlichen reden weiter. die unverantwortlichen reden weiter.

dokfilme drehen sich weiter & stricke. die spieße drehen sich um:

der angeklagte ist verstummt

& verlässt das gefängnis

als unschuldiger.

 

 

Lars-Arvid Brischke

totentanz j.c.m.

 

london stockwell underground, beamte in zivil

die folgten ihm seit er das haus in scotia road

verließ. das mutmaßliche haus. sein trenchcoat

für die witterung zu dick. sein schwarzes haar –

ein offensichtliches indiz. & wie er plötzlich

eine gratiszeitung aus dem blechbehälter nahm.

die wussten nicht: der überspringt weil er spät dran ist

die barriere. die dachten nur: der sprengt sich in die luft.

& was sie dachten wurde zum verdachtsmoment

zehn schüsse abzugeben: sieben in den kopf fünf tödlich

vier beamte in zivil, die ihre drei genannten gründe

nicht begründen können: ein brasilianer, nirgends dynamit.

die eile im berufsverkehr. das weite mäntelchen

des schweigens das jetzt eng anliegt.

 
Stefan Monhardt / Berlin / *1963
Letztes Buch: „augenblicksgötter“, Gutach: drey 2007
(ZURÜCK)

Stefan Monhardt

 

 

wir wissen wie man den wind macht und

himmlische kinder und schläfensausen und röhrenden

geist aus unsichtbaren turbinen hantieren

das donnerblech die gewinde und pleuel

 

nachts wenn du die ritzen deines hauses verstopfst

entführen wir leute in geflügelten apparaten

und zerschlagen ihnen die glieder so

künstlich daß keiner es wahrnimmt

dem es widerfuhr der haßt sich den rest seiner tage

der dreck

 

und dir schlafendem haben wir den leib mit

glöckchen und klirrendem flitter umwunden und

als du erwachtest und dich rührtest und

sprechen wolltest da entfuhr dir nur fremdes getön.

 

Veröffentlicht in: „augenblicksgötter“ (siehe oben)

 
Weitere in Frage gekommene Autoren (alphabetisch):
 
Armin Steigenberger / München *1965
Letztes Buch: „gebrauchsanweisung für ein vaterland“, POP Verlag, Ludwigsburg, 2006
(ZURÜCK)

Armin Steigenberger

ROBESPIERRES  KLEIDERSCHRANK

 

mit nichts darin     als dem geruch nach gebeiztem

fichtenholz     der säuerlich darin hängt     ein paar

 

schrammen im holz     keine bundlosen weit aus

geschnittenen stulphosen     nur scharten  und ritze

 

weder hemden mit flatternden krägen     scharlachrote

mützen auf der ablage     noch gelockte weiß gepuderte

 

perücken     keine hüte mit federn oder geschärfte brillen  

keine schärpen kokarden und schleifen     nur der herbe

 

geruch alten gedunkelten holzes     beiläufig bitter

schrammen und schürfungen ganz unten     ein schrank

 

mit nichts darin     als einer eisenstange zum aufhängen    

von westen und jacken     im bodenbrett hell verschrammt          

 

ein paar flecke  gallseife     ein rest salzigen reinigungsgeruchs

dunkel vertropftes      junger staub auf den zwischenbrettern  

 

 

Armin Steigenberger

SONDERSITZUNG

 

In Gedenken an Tim K.

 

Ich sah dein herz durchlöchert im feuersturm,

             beretta 92 als tatwaffe.

                          die 15 schuss pro magazin: sie

                                         trafen und töteten 16 menschen.

 

Und bestens ist der tathergang recherchiert,

             bestandsaufnahme säuberlich durchgeführt

                           die neuigkeiten blubbern stündlich,

                                         alle kanäle sind live am tatort.

 

Vorbei: dein herz schlägt nicht mehr. es hörte auf.

             zur stunde tagt das bundestagskabinett

                           man zeigt am overheadprojektor

                                         bilder vom tatort und zoomt die toten.

 

Was trotz erfolg noch besser zu machen wär,

             auch wenn die einsatzkräfte zu hunderten

                           ein vorbildliches tun bewiesen

                                         gilt doch wie immer ein mehr an leistung.

 

Zur aktuellen stunde bespricht man nun,

             was seitens politik und auch polizei

                           passiert ist während eines morgens.

                                         manch einer zupft am krawattenknoten.

 

 

Armin Steigenberger

DEUTSCHLÄRM

 

die oberfläche jagt hübsch weiter. es naht

der aufschwund, notgewandelt, das volk ist sau

laden rings, so bunte geist, verfuchtelbau,

allergisch verdeutelt. götterfunzeldraht

 

im allpapier: die kran den schwalben hecht

als wollung und fun-geblüt verwerbt, verderbt

die propAG in halbwertszeit verscherbt ―

ein tiererlei an junkwertkost verzecht.

 

doch volksverschnitt im brokerismus krankt

der standort, sternhopst gürtelbeengt in welt

couleurs, machtoffne herzen, macht liebe, dankt

 

dem selbsterlös im psychopott, verfällt

devisenschlichtungswert: uns eint das geld ―

die sphinx in gold (weiß papst) ― äugt sakrosankt.

 

 Veröffentlicht in: „gebrauchsanweisung für ein vaterland“, POP Verlag, Ludwigsburg, 2006

 

 

Armin Steigenberger

 

WIR BETEN FÜR  unser plastik

verschmortes glück

unser kleines süßes dunkel

und den goldfisch im portfolio

(sprinkling sparkling)

wir beten für motorola

 

wir falten die hände

für opel und die deutsche bank

wir beten für brooklyn für den

landgoldvaterunservertreterlandsegen

für ein wenig weniger regen

für alle rasenden und alle versandeten

 

wir gehen in uns bei black soul choir

und unsere ad acta gelegten zungen

wir singen ein wenig mit

für die uneingeschränkte freiheit

wir beten für alle und uns

lustzuckende heterosexuelle ausatmer

 

wir beten für unsere neidlosen nerdhaften

nachbarn im sorgenbrecher und im come out and find inn

für nachmittage im sonnenlicht mit sonnenschutzfaktor 24

 

wir bäten gern für unser einmalland unsere wegwerfheimat

beten für unsere gute ernährung für weiteren zahnersatz

für neue coole songs zum download mit live style stream

für bessere downloadraten mit gratispaketen

und gespenstisch viel redefreizeit

 

für unsere ganz privaten himmelstreppen

mit den dir geschenkten herzen vom tingeltangelmann

 

 

Armin Steigenberger

WURSTKÄS

 

wir bereiten

wir bereiten

uns vor für

 

den worst case

arbeit platzt

geld verbrennt

 

wir bereiten

wir bereiten

der würstchen steuer

 

zahlers karo

bildungsziele

chapter nein eleven

 

konjunktiv tot

rezession und

rettungsringbilanz

 

wir bereiten

wir bereiten

den westkurs

 

vor strohfeuer

liquiditätsschmelz

zielnahe zielmarke

 

geld fließt prozyklisch

einschießt geldtum

wir brauchen wachs

 

wir bereiten fragen

wir bereiten geld

 

reiche russen

kumpeln rum mit bossen

hortungsspirale

 

wir sind bereit

wir sind bereit

after cursed ways

for the worst case

 

die schockstarre

verwunden das an

gebot der stunde

 

hochgekrempelt

obamapaket

 

wir berieten

wir berieten

den new deal

den handkäs

 

co²  frisst in

vest case chapter

dein eleven

 

völlig wurst

konsumiert

 

wir bereiten

wir bereiten

 

washed

cheese

 
Bernhard Erich Kaute / Lend im_Pinzgau(A) / *1984
 
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Bernhard Erich Kaute

tätowierungen

 

bilder zieren meinen körper
sie leben auf ihm
eine landkarte
aus farbe und haut
zellen und pigmenten
gegerbtes leder
in einen rahmen gespannt
zeugnisse meiner träume
sichtbar für jedermann
vielleicht ende ich mal
als lampenschirm

 

 

Bernhard Erich Kaute

analog xenophob

eidotter fließt langsam
über mischbetonwände
durch die erde der gräber
brechen vereinzelt hände

geschlossen staut die
sonne farben auf
eine spektralexplosion
taucht die ganze nation

in ein meer aus heissen
regenbögen
worin alles zerfließt
und aus dem schmelztiegel

ein neuer morgen ersprießt
die welt huscht umher
scheu wie ein reh
aus den wäldern tönt es vorlaut

egalité

 

 

Bernhard Erich Kaute

backdraft

 

am scheideweg unserer existenz
schlagen schmetterlingsschwärme
zeit in die flucht und lassen
uhren in lichtgeschwindigkeit
rückwärts rotieren

wenn sie morgen essensmarken
verteilen, dann fresse ich die
kakerlaken in meinem scheisshaus
und entzünde danach das ewige
licht für ihre unsterblichen
seelen

flugblätter verkünden den anfang
vom ende und die letzten zweifler
stehen schwitzend in jauchegruben
und atmen den ekelhaften gestank
der gewissheit

die blausäure durchströmt meine
lungen, setzt sich auf das sofa,
schaltet den fernseher ein, zieht
sich meine pantoffeln an und fühlt
sich wie zuhause

erstarrte kadaver stehen spalier
für das vergessen ihrer kinder und
die natur des menschen krönt sich
zum könig der immerwährenden
finsternis

 

 

Bernhard Erich Kaute

beijing

 

menschen verbrennen in kohleöfen
der große vorsitzende onaniert
angewidert vor den fünf ringen
wenn der einzelne keinen wert hat
ist das kollektiv unaufhaltbar

am tien an men platz ist nie etwas
passiert
pandabären in volkstrachten tanzen
um atomsprengköpfe
unter duldung einer fettgefressenen katze
laufen die kapitalisten auf freiersfüßen

gabriel mit dem flammenschwert
ein todesstoss um mitternacht
schlachtet die hauptstadt
die hure babylon wartet in den wehen
um ihr beim sterben gesellschaft zu leisten

 
Birgit Schwaner / Wien/_*1960
Letztes Buch: „Lunarische Logbücher“, Ritter Verlag, Klagenfurt – Wien; 2007
(ZURÜCK)

Birgit Schwaner

schattenwerfer*

 

fall o.

 

start klar? stewardessen, piloten

passagiere: auf ihren platzen

angeschnallt, sssst! schon geht es

los in den köpfen, weißes wirft

schwarze schatten, hände mit taubenfedern

gespickt, dachte ich, also ikarus

ikarus hockt im cockpit (hahnengrube,

auf deutsch), hockt da: polierte sonnenbrille,

schnabel geschärft, mit geblähtem

hals: fesch überm akkuraten kragen

sssst! schon geht es los in den köpfen

(unsichtbar uniformiert) blickt alles

um sich: voraus, zurück

hände aus wachs, mit federn gespickt

(heute wird hier verpickt und verpackt)

blickt alles um sich: nach rechts, links, rechts:

fußzehen, nasen, blanke pupillen,

traumfilter, nachtschleim, blondhaar

betone: alles verkleidete kapitäne

kapitäne mit weißer haut

o, so feine weiß schimmernde haut

alle sollen hier hoch hinaus,

alle hoch heißt: einer hinaus

zweifellos: wollen alle das beste

laken, schneereden zweifellos, aber

wer zweifelt: passt nicht hierher:

tragflächenstop, kein notausgang mehr

dürre windbruch brachland, vorbei

 

sagen: zu schwarz, um uns

weiß zu sein, unruly passenger,

hohes gericht (und das stempelt

stampft dann die äugen stampft

die tränen wimpern gesichter stampft

auch die arme leiber schreie

schnürt ganz afrika: fremdenpaket

klettverschlüsse privateigentum)

ikarus, weißes wirft schwarze schatten

 

keine gefäßlichtung

atmet der flüchtling?

atmen? atmen wird abgeschoben

knebel im namen der republik:

servus, in unsrer luft soll so einer

nicht essen nicht trinken nicht

an lehnen treten nicht schreien

tragflächenstop

kein notausgang mehr

 

rechte untere extremität: blutunterlaufungen:

schienenbeinkante, innenseite des unterschenkels,

fußrücken; bräunlich verfärbt an derwade:

injektion formalinjektion:

vogelfrei grenze zerbrochen

wohlstandsgrenze, bleiben gewollt

also: erster mai blaulichteskorte:

rollfeld abwärts, hat nichts zu wollen

wollte doch aus dem fahrzeug flüchten

also: hände und beine gefesselt

beine knieabwärts verklebt

(klettverschlüsse: privateigentum)

lippen, mund: unter leukoplast

(hat nichts zu schreien)

klebeband um den köpf um um

schlug sofort dann stirn gegen scheibe

stirnschlag, stirnschlag, dienstwagenscheibe

wer panisch um sich schlägt, tritt und hilflos

in eine hand beißt, amtliche hand

(hautabschürfung: ein zentimeter, leichte krusten

it. protokoll): wer so zweifelt passt nicht hierher

arme an den körper geklebt

 

... dann in die maschine getragen (fischbauch,

bullauge, hinten rechts) schubhäftlingssitz

paketklebeband graubraunes, breites

 

wie viel meter hält ein

lebensfaden das aus?

 

linke untere extremität: blutunterlaufungen:

schienenbeinkante, innenseite des unterschenkels,

innenseite des kniegelenks, außenseite

des unterschenkels, fußrücken, innenknöchel.

motoren: zu laut

 

ikarus, wissen die moiren schon

oben im fischbauch: weißes rauschen

 

moiren, flugalphabetisiere:

mike oskar romeo echo november

wissen alles, fasse zusammen:

greisinnen, blind, in der höhle

in einem felsen mitten im meer

(flugalphabetisiere: mike echo echo romeo ...)

schicksals-manufaktur, umnachtet

lachesis: spinnt jeden lebensfaden

färbe egal, den rocken hält klotho

atropos schneidet ab. nehme an alle

fadenreste in allen färben landen im meer

(mythos: mit lichten fingerkuppen

papageienschnabel vielleicht: wächst dann

wächst aus maschinenritzen, wuchert:

flimmern zum abend hin)

 

schwarz und gelb und gelb und weiß und rot und braun ...

 

das irritiert die stewardessen:

drei mann für einen, drei staatsbeamte

während des fluges zwei- bis dreimal

köpf mit einem paketband fixiert

mit erheblicher kraftaufwendung

klappen zu, tuchfühlung, man hebt

ab. reiben sie ihre außenhäute

ruhig aneinander, ruhe ist pflicht.

 

sagen: laute, als sei er ein tier

sagen: muhte, und: mumie gesehn

hätten noch nie eine mumie gesehn

in der luft zwischen staatsbeamten

sog im schweigen der passagiere

(einer wird abgeschnürt: österreichgewalt:

heute wird hier verpickt und verpackt)

 

luftig weiß heißt verklebtes schwarz

schrrrttt, schattenwurf, schattenhirne, klebriges

in köpfe gestopft, schrrrttt die wächsernen herzen

verhüllt, passagierblindheit, schattenflüge, herzen

in schleifen, schleifender atem, äugen zu, kinder!

fauste entfesselt, soviel weißes wirft schwarze schatten

 

hände mit rabenfedern gespickt

einer wird in den schlaf gepickt

einer wird hier erstickt und verprackt

 

ob man schläft, wenn sie einen verkleben

ob man überhaupt atmen kann, tief atmen,

meine ich, wie ein kind - ist alles verloren

tut es doch gut, tief atmen zu können, atmen

als war man allein, die sonne nah

wenig kontrolle im brustkorbbereich

jetzt, jetzt wird er ihnen entschlüpfen

im gewundnen paketklebeband, also

ertrinken im bauch eines fisches

sinken, stracks in frühere tage, jähre:

nicht mehr zu greifen, schmerzenlos,

nicht mehr zu greifen, kein freund

könnte ihn zurückholen, jetzt, noch

eine minute, dann schlägt das herz den

rhythmus allein

 

schau: was machen die drei bewacher

(machina, ergo maschine mensch):

denk dir was schönes fremdenpakete

oder sein herz schlägt

den rhythmus allein

(schlägt ein herz den rhythmus allein

wird der puls zum echo der moiren)

 

in summer i was living

in the tummy of a fish

it was a big fish

so it didn't notice me

„fish, who are you,

where are we now?"

i once yelled against the walls

the walls of its body inside

inside there was no sun

only some kind of reflection of light

like half of the moon

and i got no answer

i listened one day one night and

the next night too

(knew it by watching my old alarm-clock)

listened until i

imagined the sea outside, salty winds

and sometimes a fish touching

other fish perhaps touching

people (swimming, diving?)

there was no answer

 

durch alle bullaugen wind sonne wind

blendung lichtschneise: leere berührt

hallo, hier spricht ihr kapitän

fasten your seatbelts wir heben ab

immer heben wir ab überfliegen

das alte meer mit der sonne nur mit der

sonne im cockpit auf höchster etage

müssen sie entscheidungen treffen

zuviel soziales denken behindert

als ich ein kind war wollte ich weiter

weiter nach oben schon als ich kind war

ein sog hinauf

 

hände mit rabenfedern gespickt

bringen im tuch das eröffnete herz

in der große der leichenfaust

himmlisches klappern der anatom

sichtet im herzbeutel bersteingelbes

soll man das kapitänen zeigen?

wer wäscht ihre köpfe in schuld

wäscht ihre weiß verklebten hirne

wäscht sie wach riskiert turbulenzen

demoliert den autopilot

ikarus? ikarus abgestürzt, logisch,

dachte ich, ssstttt, und die meere

erfroren, in scheiben geschnitten

paraffin fettrot berlinerblau

schnürt was schnürt was

 

 

* entstanden im frühling 2006, im rückblick auf den tod von markus omofuma am

1. mai 1999, der während einer flugzeug-abschiebung seitens des Österreichs

unter klebebändern erstickte, mit denen ihn seine „begleiter" „fixiert" hatten.

 
Boris Laaser / Berlin / *1969
 
(ZURÜCK)

Boris Laaser

Rasselbande

Das Erbe der 68er

 

Uns aber,

denen vielschichtige Lieder beingewollt

so im geübten Flug das Herz bedrängen,

an deren Zeiten rücken, uns Traumverbliebene,

denen der Rücken versagt vor

soviel Nichts,

 

Oder wenigstens: Manchmal

erscheinen die geübten Dinge uns

ganz tot zu sein, vorgegangen. Mit den

geerbten, rostigen Schlüsselbunden

üben wir die Wache am leeren Luftkäfig.

 

Unsere Herren tragen Leder und fahren

den verhaßten und beliebten Sternen

nach. Wir

 

rasseln mahnend den Lärm.

So mancher Penner behauptet, für ein Bier

zeige er uns, wo es schließt -

wir könnten dann mal nachsehen.

 

Uns aber,

denen die Lieder die Beine

genommen, wir fliegen

unseren Herzensflug -

vergeben

 

keine Schlüssel mehr, wir

haben keine Landung: Spieler, Schwärmer

Notgestalten.

 

So manches Auge eines Alten zwinkert,

hält uns noch am Fliegen.

 
Carina Nekolny / Wien / *1963
 
(ZURÜCK)

wientouristinnen / pamphlet poetry*

 

Carina Nekolny

herbergasyl 4

 

bergfreie gegend mit stall oder

hütte für asylgewerber die brau

chen kaum mehr als 4 stock

betten zum schlafen die schlaf

gänger wiedergänger wer nicht

ertrunken ist auf der fahrt aus

dem orient vor kanarensardini

enmalta wird abgewiesen abge

schoben in wüsten geführte sa

harawanderung ist angesagt ist

schön für outdoortouristen mit

berberkoch der tee so schwarz

so süß der tee & der himmel erst

& die sterne selbst 1 stall ist

zu gut für die toten

 

 

Carina Nekolny

herbergasyl 7

 

asylkrippenherbergschub ho

ruck schieb an asyl die 3 kö

nige nach zeuta oder die peter

silinseln die spanischen die

die panischen 1 mauer in den

himmel 1 vogel im nichts

wie der schweifstern

 

 

Carina Nekolny

herbergasyl 8

 

bergstation berg

suchhundbergstei

ger her damit berg

& tal die suche

wer anklopft auf holz

klopft geht auf schub

& zack zelle weg

plattererdings

 

 

Carina Nekolny

herbergasyl pamphlet 2

 

wirf das kind aus dem wagen aus dem fenster wirf es in einer parabel damit es weit fliegt in schönem weil hohem bogen ganz still ist es wenn nur der flugwind pfeift & wir morgen dann lesen vom kindsmord in betlehem in wien oder sonst wo herodes auf den fersen der blutdurst’ge herrscher horrorkönig auf seinem thron der kinderschlächter vatermörder tochterschänder der das geworfene verworfene kind auffängt kinderretter menschheitsretter die zeitungen voll wie die spenderherzen deren börse sitzt locker 1 licht 1 dunkelkind wie es sein soll caritas vanitas & agape zum schluss & 3 todsünden geschenkt im doppelpack die 1 rosenbeet vor eiswind schützen den tod bannen bis himmel tauen den gerechten der herabregnet auf erden als asche als herzkönig herzkind mit eselsohr & kamelhaar eingebacken im weihnachtsstollen vom meisterbäcker in der wand

 

 

 

wientouristinnen.in form

projekt südseesehnsucht*

 

Carina Nekolny

nauru

 

21 km2 ist die insel nauru groß lang

& breit 21 mitten im pazifik meer

azur blau himmel licht blau sand so

weiß 21 km2 nauru inselrepublik im

pazifik vor australien wie praktisch

21 km2 flüchtlingsgefängnis 21 km2

internierungslager für asylanten &

strandgut nichts wert & schon gar

nicht in 1 welt der 1 der 1. welt dort

schon gar nicht/ 21 km2 im pazifik

rundum blau wie 1 traum & es kos

tet fast nichts jetzt wird es geschlos

sen das lager das auffang- das abfang

& einfanglager auf nauru

 

*Alle Gedichte bzw. lyrischen Pamphlete der Autorin entstanden im Rahmen

 von Performances des Lyrikerinnenkollektivs wientouristinnen.inform 2008

 
Clemens Hoffmann / Berlin / *1975
 
(ZURÜCK)

Clemens Hoffmann

Anästhetikum

 

Erinnerung als Cut-Up und Selbstschussanlage

Kontinuität durch Amnesie

Fold-In verstreuter Leichname am schraffierten Himmel

Spielplatz für Elendstouristen und Saboteure aller Art

 

Gepanzerte Mannschaftswagen verhinderter Lagerwärter

Hände und Gesichter noch blutnass vom letzten Gebet

Beim ersten Sprung in die Menge: ein Lied

Colour to the world, spice up your life

 

Freiheit ist Kaufkraft unterm Hackmesser

 

 

Clemens Hoffmann

 

 

Ich bin das dionysische Feuer

Schild der Verdammten

Schwert und Siegel weißgeklonter Attraktion

Der Sternenlenker des Königs

Der mein Sklave ist

Seit dem zweiten Frühling der Rebellion

 

Ich bin mein Mörder

Das Gefängnis Freiheit

Kind und Untergang der Guerilla

 

Ich war Prometheus

Der die Leber des Adlers fraß

Und mit Ketten den Sohn der Göttin erwürgte

Am kaukasischen Felsen

 

Ich bin Sohn und Vater der Tyrannen

Die sich die Hände waschen, einer dem anderen

Im ausgebrannten Theater Welt

Materialschlachte ich eure Utopien

Auf den Wortfeldern von Verdurin

 

 

Clemens Hoffmann

Schrittweise

 

Durch die Trümmer vergangener Zeitalter

Wandle ich staunend

Ein Spaziergang

Hinweg über Jahrhunderte

 

Ich entfachte Revolutionen und setzte die Welt in Brand

Mit Mao trank ich nächtelang, ein grinsender Buddha als Diener

Ich teilte Städte und ganze Landstriche als spöttisches Nachtmahr

Der Geschichte von deutschem Geist und hoher Bildung

Ein Wink von mir vernichtete die Gefängnisarchitektur des Sozialistischen Realismus

 

Während der Zeit meiner Schauprozesse gegen JeanJacques

Wählte ich Felix Austria zum Inquisitor

Bei den Festen der Vernunft knüpfte ich beide auf neben Stalin

Und der Tod war ein Fenstersturz aus dem Prager Frühling in das Vakuum von Stammheim

Im Handstreich sprengte ich die Embleme auch dieser Gesellschaft

 

Während die Herrschenden der Jetztzeit ihre Abendgarderobe am Galgen präsentierten

Hockte ich bei kokakauenden Bauern in den Anden

Und verhandelte auf aztekisch mit einem elektromagnetischen Kriegsgott

Ich habe sie alle gekannt - Hamlet, Leonardo, Faust

Und verbrannte sie in einer einzigen ekstatischen Nacht

Auf das Knirschen der verkohlten Skelette aber baute ich Bibliotheken

 

Im Schimmer dieser erschöpften Stille

Höre ich nun deine leisen Schritte

Auf dem Gang der Zeit

Willkommen, Geliebte!

 

 

Clemens Hoffmann

Wertschöpfung

 

Die Staatsarchitektur schwarz in der Morgenröte

Flache Strahlen in Milch

Absorption der Macht

 

Ich will Himmel sehen

Und nicht gläserne Sendboten

Unter den ewigen Gesetzen des Kapitals

Kleiner als Speer

Doch vergleichbar im Anspruch

 

Die globale Kulturkampfszene trifft sich

Drittweltschweißimprägnierte Uniformen

Im Sonderangebot bei H&M

Basecap ab zum Gebet

 

Lohn und Brot

Macht Würde

Und Arbeit

Macht frei

 
Cornelia Travnicek Traismauer (A) / *1987
Letztes Buch: „spannung spiel und schokolade“, Fließtexte, Edition Thurnhof 2009
(ZURÜCK)

Cornelia Travnicek

 

und wenn jemand birken sagt

dann sollen wir nicht an ausschwitz denken

lieber doch die silbernen pappeln lieber doch

es geht wirklich nur um botanik

 

und wenn jemand rauchfang sagt

dann sollen wir nicht an ausschwitz denken

lieber doch die kaminfeuer lieber doch

wo bleibt dabei nur die romantik

 

und wenn jemand menschen sagt

dann sollen wir nicht an ausschwitz denken

lieber doch die unmenschlichkeit lieber doch

was will mir die ganze semantik

 

 

Cornelia Travnicek

 

die fremde legt mir

schützend die hand auf

die schulter

schwer wiegt im koffer

das nichts

im rücken das verlassene land

meines vaters

ich trage nur mutters

sprache bei mir

und für einen tag noch

licht

 

 

Cornelia Travnicek

die dachlosen

noch nachtklamm im park
liegen sie zugedeckt vom
eigenen schatten

 

 

Cornelia Travnicek

wer die wahl hat:

 

alle

haben sie die wahl

nur dass

manche

mehr

zu wählen haben

als die anderen

 

 

Cornelia Travnicek

wahlkampf

 

vorher:

 

immer mal wollte ich

die morgensonne wäre grün und

erst um neun uhr

und dass

alle zäune weiß wären

wollte ich haben

man könnte tag und

nacht wenden

wegen der schlaflosigkeit

dass vögel mal

am rücken fliegen

was für ausichten

da wollte ich

man könnte öfter mal

die perspektive wechseln

einfach so

 

nacher:

 

die realität verändern

dass

lag nie in meiner absicht

 
Eike Grauf / Stuttgart
 
(ZURÜCK)

Eike Grauf

entmietspiegel

 

inmitten einer wildnis aus fenstern und tueren

ein bett

 

die matratze ist ein blauer abgrund das laken

aus scheu

 

smogkissenversunken ein unterhand nehmender trabant

mondtot machen

 

von überallher die lustlos mampfenden augen der

trittschall-sniper

 

spucken auf trotzige herzkruemel kribbeln am blanken

schwarz geoeffnet

 

der letzten haeuser puls und in den fluren

des umgezogenwerdens

 

steht der verwohnungen sprachsperrmuell

 

 

Eike Grauf

eininseln

 

         ich ufere über in den wellen vorfindendem verlorengehens

azurne sonnen sickern in mir herab sommer schläft auf meinem

 

rapsgedankenfeld

 

        ein versenkendes marschlandlächeln schwimmt flüchtig in

                den tränen hemmungslos schluchzender schlachtbänke

 

 

                                                                                  Eike Grauf

                                                        kaputtgehen

 

                                                                              wer

   hat umgehend den goldenen einsamen gesät

  an

   welchem fixerwerden zerbarst der wasserfarbenfalter

                                                                                 wer

   hat verloren gehend den goldenen einsamen gesät

  wer

   zimmerte die särge schon in die häuser

                                                                                 wer

   hat nebenhergehend den goldenen einsamen gesät

  wo

   kommt das kommen im an und wo das an im kommen

  an

 

w

  er  h           

at     inm        ic

 h      g     eh      

                                            endd en golde ne

 

                        nein s      amen g              es    

 

ät

 

 

 

Eike Grauf

 

 

laue witterung von bla   schnee steigt in den augen durch

das herz aus dem mund auffrieren  la  zaehne nagelt hagel

durch das pochen an die blicke eintauen   au herzpfuetzen

stapfen durch die graupelaugen in den woerterwind ausblauen

tau

 

 

Eike Grauf

 

                                                                   sch

                                                               wellen

                                                 sinken in arme

                                                                     ab

                                                     genabelt von

                                                                   zeit

                                                    entkernt blau

                                                          horizonte

                      lichtflusen splittern im rabenlaub

                                                          befratzen

                             mondpranken regenknorpel

                                                            grell†o†

                                                                    an

                   windtrommeln rühren traumwirbel

                                                      scherbenrot

                                      kracht morsches licht

                                                                  weg

                                            legt sich um hälse

                      k…ö…r…p…e…r…c…h…e…n

                                                         nnenrenn

                                                                      e

                                                                      n

                                                                      r

                                                                      e

                                                                      n

                                                                      n

                                                     ennenrenne

                                                                      n

                                      ins bodenlose türmen

                                                  nachbabelnde

                                                                   sch

                                                             wellen

 
Florian Strob / Oxford (UK) / *1985
 
(ZURÜCK)

Florian Strob

Am Ende der Moderne

 

Wie immer: wundervoll

voll Wunder

MYSTIK-Kabinett

dort oben

(die Kondensstreifen)

Projektionsfläche?

 

Unio mystica: nicht

die Einheit mit GOTT

die Einheit mit

der Gesellschaft,

die als religiös

verstanden.

 

Und die Norm,

Normalität

als ein Beweis

der Einheit:

normierte Massen.

 

Man hört

nun überall:

keine

Souveränität

dem Individuümchen.

Wir Ästhetizisten.

 

 

Florian Strob

Ein Sommertag

 

Das Korn riecht als würde

es nun bald gemäht

sein und liegt

das Gelände hinab.

 

Die Lüftung des Stalls

surrt herauf. My mind

ruht am Mittag vorm Wald.

Kein Wind. Nichts bewegt.

 

Und auf den Südbalkonen der Nordhalbkugel

wird es langsam

unerträglich.

 

 

Florian Strob

Revolutionswetter

 

Es sind diese schwülen Tage Ende Mai

– röntgende Blicke, stumpfer Sinn – ,

wenn die Alten kollabieren

und die Luft gebläht verharrt, alles

verweigert – tenue!

 

Ach, das meint, so meine ich,

an kühlem Stein gelehnt im Schatten

Schwüle Tage lesen, sowieso

mehr Keyserling.

 

 

Florian Strob

Briefe an die Gegenwart

 

1

Ein Mann, eben noch Angestellter

im schwarzen Anzug, tritt auf den Marktplatz, zieht

mit Kreide einen Kreis um sich und isst das Kopfsteinpflaster,

die Füllung des Kreises.

Nach dem Mahl bleibt er im dunklen Sand

des Untergrundes hocken.

 

2

Wie Leichen in der Pathologie liegen sie auf dem heißen Sand

der Bucht, ausgerichtet zur Sonne und zum Meer.

Erstarrte Körper im Angesicht des Gottes, den sie

in ihrer Regungslosigkeit unter dem Wind

des Mittelmeeres anzubeten scheinen.

 

Auch ich biete mich der Sonne und dem Meer an.

Auch ich erwarte im Rauschen der Brandung, die den Strand

immer wieder hinauf kriecht, dass die salzigen Wogen

die steifen Körper bedecken

und mit sich in die Tiefe ziehen.

 

Ein Schlund das Meer, die Brandung ihre Zunge

und der leere Strand

ein blanker Teller gestreift vom Wind.

Geduldig werden die nächsten Körper

das Gleiche erwarten. Mit tausend leeren Augen

werden die Hotels den unausweichlichen Vorgang

weiterhin beobachten.

 

3

Ihr Schreiber, ihr Menschen,

das sind fünf Akte:

Wir im momentanen Leben,

da ist soviel mehr und anders als der Moment: – Gegenwart,

die mehr ist als gestern und heute, morgen und die Tage danach!

Gegenwart, in der wir nicht von Genen gesteuert, flexi-

bilisiert und ruhig gestellt sind!

Wann wacht ihr nur auf

aus eurer Lethargie und Todesstarre?!

Wem seid ihr hörig, wenn sich der Protest

vermarkten lässt? Wo ist freier Wille?

Und es führt – ob gut, ob schlecht – wie jeder weiß

immer zu katastrophé.

 

4

Diese aggressive Leere, das Schleichen der Minuten.

Und dann Wut, unbegründete, aus dem nichts kriechende, elende, dumme, dumpfe Wut.

Und der Wunsch das Klavier zu zerschmettern,

mit der Axt den Schreibtisch zu zertrümmern und jedes Wort zu verbrennen.

Verschenke deinen Stift und das Papier an jemanden,

der wirklich schreiben kann.

Jedes Wort ekelt mich an.

Verbannung der Sprache, der unzulänglichen

mit dem doppelten Boden.

 

5

Wir sind alle

auf unsere Art

Extremisten. Verstehen, begreifen? –

Eine Illusion.

 

In komplexer Zerrissenheit sind wir,

jeder für sich, immer wieder

eins und unteilbar und extrem.

Lebendes Paradox: das ist ein Mensch!

Und nur Versuche,

ihn zu erfassen.

 

 

Florian Strob

Denkt noch jemand

 

an den Maurergesellen

verblutet an die Mauer

gekauert unter den schielenden

Augen der gespaltenen Welt

 

an die ertrunkenen

Kinder im Grenzfluss

Schwellenwesen, nicht

schwimmend

 

an W. Freudenberg

in seinem tollkühnen Gefährt

aus Frühbeetfolie und Gas

gestürzt auf den Teufelsberg

nie gelandet, am 8. März 1989

 

an Kain und Abel

Brudergerede

an Meinland, Deinland

Keinland

 

an Lagerwände für Stallmist

feindwärts getürmt, freundwärts

verrückt

 

an buddhistisch geharkten

Kontrollsand für Fußspuren

im zu beschießenden Kader- und

Köderstreifen

 

an Menschenschmuggelwagen

hinterm Schutzwall gestaut

vielleicht antifaschistisch

vor allem aber

sehnsuchtsvoll verzweifelt

 

an all die Einzelnen

die anrannten gegen

das Verdrängte

standen

gegen das System

 

denkt noch jemand

an die 136

an die Grenzen in den Köpfen

an die gefälschte, verbotene

Erinnerung, beidseits:

 

jetzt vermuten sich

viele ein Ideal

im Vergangenen

und schauen nicht dem Vergangenen

ins Amöben-, ins Astronautenauge

 

jetzt

da der Palast

der Leere

und die Leere bald

dem Palast (der Leere)

weicht:

 

Berlin, Fülle der Lehre

Fülle der Leere.

 
Gerhard Rombach/ Sollentuna_(S)/ *1931

Letztes Buch: "In uns", Lyrik, Geest-Verlag, Vechta-Langförden2008

ISBN 978-3-86685-123-8

(ZURÜCK)

Gerhard Rombach

1. Nahostkonflikt

 

Sie schufen jeder einen Gott

Zu ihrem Ebenbild

 

Unbarmherzig

Grausam und

Fanatisch

 

Wie kann da jemals

Frieden werden?

 

 

Gerhard Rombach

2. Die Wiege der Menschheit

 

Immer wieder Nachrichten

Über unmenschliche Gräueltaten

 

Afrika, Balkan, China und

Immer wieder Afrika

 

Hier stand die Wiege der

Menschheit

 

Von hier breitete das Übel

Sich aus über die Erde

 

 

Gerhard Rombach

3. Der deutsche Gruß

 

Damals als Eintopf

Höchste Mode war

 

Damals als wir den

Arm hoben zum Gruß

Wie der Hund das Bein

 

Damals gab es noch keine

Neonazis

 

 

Gerhard Rombach

4. Nicht dein Universum

 

Wenn sich

Deine Auffassung von

Recht und Gerechtigkeit

Nicht mehr mit

Geltender Praxis

Decken will

 

Wenn du der Meinung bist

Es sei wichtiger

Im eigenen Land

Ordnung zu schaffen als

Fremde Diktaturen

Zu unterstützen

 

Wenn du

Davon überzeugt bist

Dass die Menschheit

Verroht ist

Und Fernsehen

Verdummt

 

Wenn du

Immer noch glaubst

Politiker seien

Gewöhnliche Menschen

Die versuchen zu halten

Was sie versprechen

 

Dann pack deine Koffer

Und gehe -

Dies ist nicht dein Universum

 

 

Gerhard Rombach

5. In seinem Namen

 

In seinem Namen

wird gebetet

in seinem Namen

wird geschändet

geheiligt sei sein Name

 

Solange Menschen

Gottes Wort

für ihre Zwecke deuten

sind Engel in Eisen

das Sinnbild unserer Zeit

 

Hass kennt keine Grenzen

 
Hajo Fickus/ Wangen im Allgäu/ *1955

Letztes Buch: „selbst. eigenes (gelbe rosen)“; books on demand, 2009

SBN 978-3-8370-3633-6

(ZURÜCK)

Hajo Fickus

die kinder von heute

 

die kinder von heute

ernähren sich falsch

und verhungern dann oft

zu tausenden

 

die kinder von heute

sind zu unaufmerksam

und treten dann oft auf eine mine

die ihnen die beine wegreißt

 

die kinder von heute

sind schwächlich und verwöhnt

oft schon von geburt an

mit aids infiziert

 

die kinder von heute

haben viel zu frühen sex

aber von irgend etwas

müssen sie ja leben

 

die kinder von heute

sehen zu viel gewalt

wenn sie

vor die türe gehen

 

die kinder von heute

wählen die falschen berufe

denn kindersoldaten

haben nun wirklich keine zukunft

 

 

Hajo Fickus

diese ordentlichkeit der trümmer

 

diese entsetzliche
ordentlichkeit der trümmer
auf den alten bildern vom kriegsende
ziegelrest auf ziegelrest
backstein auf backstein
die straße peinlich sauber gekehrt
vom schutt

dieser versuch
das chaos noch einmal zu bändigen
das ende einfach zu ignorieren

rührt mich
und macht mich
wütend

 

 

Hajo Fickus

ertappt

 

schon längst

abgestumpft

von millionenfachem

sterben

 

warten wir

auf den beginn

eines neuen krieges

 

wissen nicht recht

welchen frieden

er bringen soll

 

ertappen wir uns manchmal dabei

der arroganz der macht

einen nicht ganz

so leichten

sieg

zu wünschen

 

 

Hajo Fickus

Ich sehe dich

 

in den kellern der stasi

verrotten langsam deine geruchsproben

              ich sehe dich auf meinem monitor

              schau dich nicht um

              du findest die kamera nicht

 

die cia liest deine e-mails mit

amazon verwaltet deine bibliothek

             ich sehe dich

             immer und überall

 

das fbi beobachtet deine reisen

der bnd zählt die weinflaschen in deinem müll

             ich sehe die schweißperlen auf deiner stirn

             sehe den inhalt deiner brieftasche

 

die kripo amüsiert sich

über die pornos auf deiner festplatte

             ich sehe das zittern deiner hände

             sehe die erektion in deiner hose

 

dein arbeitgeber kennt deine vergangenheit

und dein blutbild

aldi kennt deine lieblingsschokolade

und deine krankenkasse kennt sie auch

             ich sehe dich wie unterm mikroskop

             nackt bis auf die poren

 

             ich seh dir ins hemd

             und unter die haut

             ich seh dir in den kopf

             und ins herz

 

ist es nicht schön

dass uns alle

um dich kümmern

 

 

Hajo Fickus

katharina blum hat geheiratet

 

katharina blum hat günter wallraff geheiratet

bald nach ihrer entlassung aus dem gefängnis

sie drehen jetzt zusammen einen pornographischen

film über die siebziger jahre

und machen dann eine quizshow bei rtl

oder bei arte

 

typisch

 

schreibt die bildzeitung

 
 Hanna Fleiß / Berlin / *1941
 
(ZURÜCK)

Hanna Fleiß

Bild des Menschen

Auf das Sonett von Johannes R. Becher

 

Wir, Heutige, weit entfernt

Von jenem Bild, das du im Traum

Dir einst vom Menschen

Maltest.

 

Niemand bekennt: Verloren

Die Menschenwürde. Bezahlt, abgefunden

Das Vergessen. Kein Aufspringen,

Kaum Aufschrei: „Nie mehr!“

 

Sie führn wieder Kriege. Die Todmüden

Auf der Suche nach Brot und Dach. Der Kranke,

Der Alte, der Arbeitslose – Parasiten.

Und die Gewinne? Steigen.

 

Aus allen Ecken kriecht

Gelichter. Die alte, junge Brut wagt sich

Ins Helle. Und Polizisten schützen

Hakenkreuzler.

 

Wieder einmal. Du weißt, es hilft

Kein Kasteien. Du greifst durch die

Wände, du spürst, uns müssen wachsen

Tausend, Millionen Hände.

 

 

Hanna Fleiß

Fliegendreck

 

Morgens,

Mit grau gewelkter Schläfe, lärmte

Die Stadt. Einer ging ruhlos,

Er hatte sich selbst

Verloren.

 

Er traf das

Gewöhnlich Gewohnte,

Fürchtete, bleiben wird es. So.

Die Knöchel wundgeschlagen an Türen

Der Hoffnung, Seele und Feuer erloschen.

Kraftlos die Hände, der Mann

Fliegendreck im Treibsand des Tags.

Sein Schattenblick.

 

Die Stadt tobte. Abends

Warf sie den Kopf, schüttelte

Ihr öliges Haar aus dem Pockengesicht.

Und hinter Neonlächeln,

Schmerzlichem Glanz, in tiefster

Schwärze, hockte des Mannes

Nacht.

 

So vergingen Stunden, so

Vergingen Tage. So

Lebte er fort.

 

 

Hanna Fleiß

Heinrich Mann

 

Übern Ozean

Geholt die Totenasche des Dichters.

Wind trug sie, Wind aus Feuern,

Behütend, heißen Sinns.

 

Der Ruhelose. Der mit der

Verlorenen Furcht, der mit dem

Großäugigen Blick, der Zergliederer.

Der die Dinge benannte,

Wie er sie sehen

Musste.

 

Tritt näher.

Es spricht Henri. Leg

Deine Hand auf die Stele, du spürst

Es klopfen, Lavagestein aus dem

Herz unsrer Erde.

 

Wie kalt es ist. Unterm Schnee

Ewiges, letztes Warnen. Die eine

Lebendige Nelke, rot blüht sie

In deiner Hand.

 
Harald Birgfeld / Heitersheim /*1954
 
(ZURÜCK)

Harald Birgfeld

Ich hatte einen Schreibbrief zu verlesen

 

Auf dem

Vorplatz stand die

Menschenmenge, die sah ich von oben als ein flaches

Bild,

Von allen Seiten als den vierfach aufgeklappten

Wandschirm,

Der umstellte mich,

Ich sah sie auch von unten, sah die

Sohlen tausendfach auf meinem

Kopf,

Ich hatte einen

Schreibbrief zu verlesen,

Der erreichte alle wirklich überall,

Und, was ich sprach, blieb völlig unverstanden,

Und ich las doch nur die

Bilder vor, die ich hier fand,

Von oben, unten, allen

Seiten.

 

Als ich vor der

Auffahrt stand, war sie zu steil,

Ich wusste nicht, sie zu bewältigen,

Und wickelte den

Zweifel in die

Zeitung ein und warf sie in den

Graben,

Und es nützte nichts,

Und niemand kam zu helfen,

Und ich wusste nicht einmal, wohin der

Anstieg führen würde

Und ging wieder heim.

 

Auf dem

Bahnhof stieg ich wahllos in den nächsten

Zug, der fuhr nicht ab

Und gab ganz ohne Grund

Asyl,

Und wies nicht einen ab

Und hatte doch kaum

Aufenthalt.

 

 

Harald Birgfeld

Dieser Tag war ganz genau wie jeder andere

 

Die

Mittagsstunde kam als stille

Wolke auf mich zu, die ich genoss,

Die

Ruhe hing in Bodennähe

Und war weit verbreitet,

Und die schwarzen

Punkte einer Tageszeitung fielen als ein

Ascheregen in die

Spur, die zu mir führte,

Ein betretner

Weg, den ich zurück würd gehen müssen,

Und die weißen

Beeren, die am

Bahndamm meiner Reise wuchsen,

Schossen als ein

Schneegestöber, an dem

Zug, in dem ich saß,

Vorbei.

 

Dieser

Tag war ganz genau wie jeder andere,

Und gestern war für mich schon heute morgen

Oder wie man immer dieses

Wortspiel drehen wollte,

Und ich schrieb an dich die

Nachricht, die ich heut bekam,

Und sandte sie, weil ich mich nicht verstand,

Zurück an mich.

 

Ich wickelte ein

Farbenband um meine

Stirn,

Es färbte sehr,

Es drang mit seiner

Farbe unter meine Haut,

Verfärbte mich nun innerlich

Und einheitlich,

Ich kannte mich in mir bald nicht mehr aus,

Und alle Schnitte, die mich teilten,

Zeigten mich so völlig farbengleich im

Blut.

 
Hilde Hack / Köln / * 1955 
 
(ZURÜCK)

Hilde Hack

geb. 1955

 

Wir haben geraucht

wir haben getrunken

haben permanent nach

Kneipe gestunken

 

Die Idylle verlassen

das Eichenbuffet

Stunden, Tage

im Straßencafe

 

Dem Reihenhaus aus

der Reihe getanzt

Bäume nur im Kibbuz

gepflanzt

 

Die Mensa, wichtigste Fakultät

Essen I oder II

die Mark rumgedreht

fürs Rauchen entschieden

Völker vereint

niemand gemieden

Biafra beweint

am Mensa-Tisch

Integration

Nationengemisch

 

Mit Interrail

durch Europa gehuscht

gepennt im Bahnhof

selten geduscht

Gepäck ein Rucksack

in  Nato-grün

Schlafsack vom

großen Bruder geliehen

 

5 T-Shirts, 2 Jeans

davon eine verschenkt

man teilte, man nahm

sich an nichts gehängt.

 

Der Sommer  war

8 Wochen zu lang

Hellas Sonne bestach

kaum Drang, gar kein Zwang

 

Sirtaki hieß

unser Lebensrythmus

man tanzte, man fiel

flog wie Ikarus

die Flügel aus Wachs

gescheitert am Licht

an Unmöglichkeiten

glaubten wir nicht

 

Denn nachts gelang alles

zumindest verbal

geredet, geschrien

bei Kerzenlicht fahl

wie morgens die Haut

zum Kaffee im Zelt

erste Kippe verdaut

 

Waren wütend vor Liebe

beliebten den Hass

beachtet  gemieden

Gesellschaft  kein Spass

 

Erkämpften Rechte

wer weiß noch für wen

bekämpften die Rechten

auf Demos zu gehen

war erste Pflicht

doch niemals vermummt

man sollte ihn sehen

den Zorn im Gesicht

der nicht verstummt

 

Ließ Semester verstreichen

gewonnen, vertan

wollten Wandel erreichen

den Rüstungswahn

stoppen, das war ein Ziel

das Sein war was zählte

das Haben nicht viel

 

Unser Vorbild Joan Baez

das Ideal Utopie

für Liebe und Glück

 wir hatten den Mut

denk gern dran zurück

wir waren verrückt.

 
Holger Ziegeldecker/ Gnarrenburg / *1958
 
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Holger Ziegeldecker

Leise Wut

 

Wenn man Geld, was man nicht hat,

rigoros verprasst,

kommt man als Privatperson

sofort in den Knast.

 

Bei den Bankern ist das anders,

die unser Geld verwalten,

die können nach Millardenschulden

ihre Jobs behalten.

Der Steuerzahler muß ja bluten

und die Verluste tragen,

der Bankmanager grinst nur frech

im eit’len Wohlbehagen.

 

Früher herrschten andre Sitten,

da wurd geteert und auch gefedert,

Verräter aus dem Land gejagt,

gevierteilt und gerädert…

 

Der Sparer sitzt in seiner Kammer,

die nächste Pleite wartet schon,

wo bleibt der Aufschrei aller Bürger?

Endlich die Revolution?

Der Deutsche ist dazu nicht fähig,

er hat das Kämpfen ganz verlernt,

er wird als braves Schaf geschoren

und hat vom Aufruhr sich entfernt.

 

Doch tief im Innern brodelt es,

da schwelt noch etwas Glut!

Die Regierung sollte nicht verachten

des braven Bürgers leise Wut!

 

 

Holger Ziegeldecker

Staatliche Hilfe

 

Du arbeitest von früh bis spät

für Miete, Strom und Essen,

doch auch mit drei 1-Euro-Jobs

die Kosten dich auffressen.

 

Du möchtest nur ’ne kleine Hilfe,

damit du nicht verhungerst,

doch der Beamte ist der Meinung,

dass du nur faul ’rumlungerst!

 

Dabei sitzt er bequem im Sessel

im viel zu warmen Zimmer,

üb’re Tür ’ne grosse Uhr

und darauf schaut er immer.

 

Vier Brötchen liegen angebissen

gehäuft auf einem Teller,

der grosse Kaffeebecher dampft,

seine Zeit vergeht nicht schneller.

 

Schwerfällig langsam müht er sich,

füllt Formulare aus,

sieht dich an als Schwerverbrecher,

du schleichst beschämt nach Haus.

 

 

Holger Ziegeldecker

Arbeitsmarktportal

 

Deutsche Firmen wandern aus –

vorbei ist der Gemeinschaftssinn –

investier’n in Billigländer

und jagen gierig nach Gewinn.

 

Wer zurzeit wird arbeitslos,

der führt ein schweres Leben,

denn in diesem uns’ren Land

wird es kaum Hilfe geben.

 

Stehst du beim Arbeitsmarktportal

vor dem Anmeldekasten,

siehst du sofort ’zig Beamte,

die durch die Gänge hasten.

 

Der eine trägt seinen Kaffee

und zweie eine Zeitung,

drei gehen nur alleine so

und viere in Begleitung.

 

Aufgabe deutscher Beamter ist,

dass sie Arbeitslose verwalten,

denn nur wenn die Statistik stimmt,

könn’ sie ihre Jobs behalten!

 

Du bekommst nur Formulare

mit hunderttausend Fragen,

damit du den Gedanken hegst,

dem Antrag zu entsagen.

 

Ist deine Wohnung dir zu kalt,

so gibt’s noch Kohlezechen,

und wenn der Hunger zu doll plagt,

dann gehe Spargelstechen…

 

 

Holger Ziegeldecker

Wahlen

 

Die Steuer steigt von Jahr zu Jahr,

trotzdem – der Staat macht Schulden

und schmeißt das Geld zum Fenster ‘raus!

Kann das der Wähler dulden?

 

Der Wähler geht brav hin zur Urne,

damit bloß keine Stimme fehlt,

um dann im Nachhinein zu sagen:

„Die da hab ich nicht gewählt!“

 

Von wem kommen dann die Stimmen

für die Partei, die keiner will?

Keiner findet die Erklärung,

da bleibt die Wählerstimme still.

 

Es hat sich vieles hier verändert,

in Deutschland wirkt so manches fremd,

doch noch bleib’ ich der Heimat treu

in meinem dünnen Armutshemd...

 
Horst Jahns / Nürnberg / 1957
Letztes Buch: „Paris - Lyrische Stadtbilder“, Frieling Verlag Berlin, 1992
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Horst Jahns

 

 

Entschlagen den Mienen von Stein springen Funken ins Gedankenstroh

dreschender Drittreichsverweser: Knisterndes, leise gesagt hinter

vorgehaltener Unsäglichkeit. Windsäer würzen die Luft mit Parolen. Mit

vergoldeten Wurzeln (um über zwölf Jahren Fäulnis den Stand zu bewahren)

wehrt sich die Stadt, wartet auf mit Betenden Händen und

Malern im Pelzrock. Im Digitalzoom suchender Besucher gewichten

Waagschalen den Umsatz von länger her gewährter Sinnverbundenheit.

Indes, was Blicke nicht begreifen (was offenen Augs nicht zu

fassen ist) heilt im Profanen: angeschaut mit Augen nach dem Vorbild

der Schönheit bedeckt weltliche Einfalt, die sich an Kunstvollem

reibt, die alten Wunden im Geist. Ins Heute gewendet könnten wir

sagen: Gegenwart eines Verlorenen klingt wahrscheinlich anders

als ein vergängliches Jetzt. Doch was wahr gewesen ist im Guten

wird möglicherweise bestehen. Und bezeichnen, was war. Trotzdem.

 

 

Horst Jahns

Historiographisch

 

Wenn einst, um Klärung bemüht, das, was mich zeichnen wird,

Rückblick gewinnt auf die Zeit, die jetzt war, fällt die Schwingung

solcher Bestimmung ins Weiche. Gerüchte von Schuld, gebietsweise

fremder, ätzten Gier ins Datenbrevier vertierter Rohlingsverwalter.

Rekurrierend auf Börsenbibel und Psalter zahlte noch jeder drauf,

bevor er dito ging. Daxe flohen den Auf-Bau, vormals aus deinem

 

und meinem Kleingeld errichtet unter Verzicht auf Sichtung, wenig

Gewichtung auf Kleindruck im Kontrakt plus Zinsruck im Abwrack

des Kontos. Augäpfel rollten unters Gezweig der Versprechen:

win-win-geschönte Verbrechen trieben Blüten zeitnah am Stamm

noch jeden Kapitals. Verfüglich optional. Checkte natürlich keiner.

Es kam gemeiner: beleckte Notenleser schmeckten den Aufrieb

 

von Bündeln, stiere Mündel ließen ihre Vormünder zündeln. Gab

denen, die ' s hatten, Auftrieb, pflasterte ihren Aufstieg und sicherte

ab gegen Ausrast und Abschrieb. Was viele nicht hatten hernach

war dem Wert nach ein sattes Plus links vorm Komma. Komatöses

Gedöns. Gefallene ließen fallen. Und fanden Gefallen an Fallobst:

fällig zum Spottpreis im schrottweisen Abwurf. Was die Welt fahren

 

ließ, war Gefahren-Mief. So wollte Aufschwung erschnüffelt sein:

mit dem Instinkt eines Trüffelschweins tief im Bankhaus-Dung

wühlen, fühlen, wo ' s stinkt und, was kursorisch sinkt, horten.

Verorten an Plätzen mit strengem Geheimnis, noch frei von Aufsicht

und Ehrgeiz im Mahnwort-Sport. Gegeben? Gebrochen?

Trüffelschwein, das ich hinfort war, hat' s noch stets gerochen.

 

 

Horst Jahns

 

 

Hätte nicht Zeit mich vergessen, vergangen

war zeitig ein Sonntag im stillen, nicht leise,

die Hand vor dem Mund, hätten Finger,

behaarte, nicht Stille gezeitigt, in diesem

Verstreichen hätte kein Licht sich versenkt

in den Schatten der Hofwand so dunkel

die Tropfen die Steine so heiß, es brauchte

kein Fenster sich schlafend zu stellen, denn

da wollt' keiner rufen und zusehn, es mochte

kein Wort und kein Laut sich verlieren,

und wenn, läg' ich lange schon still.

 

 

Horst Jahns

Entfernte Nähe

 

Gefallen aus allen Gedanken sitzen die Alten im Licht ihrer Rückschau:

Dunkles zu sagen im Vorgriff der Worte, die sie nicht finden. Nicht mehr

wie früher gelingt ein Liebkosen von Bildern: gezeichnet vom Gelbstich

der Nachkriegsepochen. Von Wimpernschlägen geschreckt steifen Stare

ihr graues Gefieder. Verwandte Wangen, die uns entblößen, verwenden

sich für einen Zuschlag von Glück: Sorgfalt, in jede Falte gelegt, kämmt

Stirnen zurück in helleres Weiß, das sie deckt. Und Jahre der Zärtlichkeit

steigen im Blick, bewässern verlorene Felder im Osten des Herzens. Hände,

von Jahren der Arbeit gekrümmt und an diese geklammert, greifen

ins Leere. Mal für Mal versetzt auf dem Jahrmarkt des Lebens, diese ehrliche

Haut: Pergament, um Zitterfinger gespannt, hin und wieder bedacht

mit dem Siegel speichelnder Münder, dem Enkelstolz jüngerer Zeit. Im

Raum, der Entsinntes nach innen kehrt, verliert sich Gewußtes: entfernte

Nähe von Stunden, entsorgt mit Augen: bewußt und in unserem Sinn.

 
Kai Pohl / Berlin / *1964
Vorletztes Buch: „Öffnen + Schießen.“, Gedichte 1989–2006, KRASH Neue Edition, Köln 2007
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Kai Pohl

metrum

 

das frau

enklo im

kanzler

amt

zeigt er

ste set

zungs

risse

die

luft

ist blau

vom duft

der macht

u. vom ge

stank nach

pisse

 

 

Kai Pohl

arm und reich

 

in einem armen land

ernähren die kinder die alten

 

in einem reichen land

ernähren die alten die kinder

 

in jedwedem land

ernähren die armen die reichen

 

die armen beklauen die armen

die reichen beklauen die armen

 

was reichtum genannt wird

bereichert die reichen und

läßt die armen verarmen

 

das unvermögen der armen

ist das vermögen der reichen

 

das vermögen der armen

ergo ihr reichtum

begründet das ende der armut

 

 

Kai Pohl

Wenn das Blut auf den Straßen klebt1

nach Dante Alighieri, Volker Braun, Friedrich Hölderlin u. Mark Mobius

 

dein eigentum auch, bodenloser

dein asyl,2 das du nicht zahlen kannst –

laß, wenn du einkehrst, jede rechnung fahren3

 

und rings im feld,4 wo ackermänner5

den nachrichten hörig, die saat verplempern –

 

trag ihnen nichts nach, zahl es ihnen heim u.

falle ab vom glauben, der nicht satt macht

eh du dein brot aus ihrem abfall liest

 

bdi6 u. anderem kruppzeug7

erwachse zum lohn selbstreflexion

den gläubigern sei ihr glaube geschenkt

 

u. für den kleinen hunger zwischendurch

serviere ihnen die midas-lektion8

 

      wenn mob u. piraten

      das jobcenter entern

      den rattenschwanz kappen

      mit der ordnung aufräumen

      wenn nach dem fest die fässer leer

                                                             u. die kassen

 

laß, wenn du einkehrst, jede rechnung fahren

 

 

1 »Die beste Zeit zu kaufen ist, wenn das Blut auf den Straßen klebt.« Mark Mobius,

Fondsmanager, im Dokumentarfilm Let’s Make Money, Österreich 2008,

Regie: Erwin Wagenhofer.

 

2 »Dein Eigentum auch, Bodenloser / dein Asyl, das du bebautest«: Anfangszeilen

aus dem Gedicht An Friedrich Hölderlin von Volker Braun, ersch. in

Gegen die symmetrische Welt, Halle/S. 1977, S. 18.

 

3 In Dante Alighieris Göttlicher Komödie (um 1311) stehen über der Eingangspforte

zur Hölle die Worte: »Laßt, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren« (Die Hölle,

3. Gesang, Vers 9; italienisch: »Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate.«).

 

4 »Und rings im Felde, wo ich den Pfad hinaus / Den stillen wandle, ist den

Zufriedenen / Ihr Gut gereift und viel der frohen / Mühe gewähret der Reichtum

ihnen.« 2. Strophe aus dem Gedicht Mein Eigentum von Friedrich Hölderlin,

zitiert aus Sämtliche Gedichte, Wiesbaden 1989 (1970), S. 214.

 

5 Josef Ackermann (*1948), schweizer. Manager, seit 2002 Vorstandschef der

Deutschen Bank.

 

6 Bundesverband der Deutschen Industrie e. V., gegr. 1949, 38 Mitgliedsverbände

mit ca. 100.000 Unternehmen.

 

7 Krupp: dt. Industriellendynastie des 19./20. Jh., die mit dem Krupp-Konzern das

zeitweise größte Unternehmen Europas innehatte (heute ThyssenKrupp AG).

 

8 Midas, Sohn des Gordios und der Kybele. Über seine Gier u. Dummheit gibt es

etliche antike Anekdoten: Um so weise wie Silenos (Sohn des Hirtengottes Pan o.

des Hermes u. einer Nymphe) zu werden, glaubte Midas, es genüge, ihn zu fangen.

Er stellte ihm eine Falle, indem er einer Waldquelle Wein beimischte, aus der

Silenos trank u. berauscht einschlief. Dionysos, der seinen alten Lehrer vermißte,

mußte dem König für dessen Freigabe einen Wunsch erfüllen. Midas wünschte sich,

daß alles, was er berühre, zu Gold würde. Der Wunsch wurde ihm gewährt. Doch da

ihm nun auch Essen u. Trinken zu Gold wurden, drohte ihm der Tod durch Hunger

o. Durst. Deshalb bat er den Gott, die Gabe zurückzunehmen. Dionysos riet ihm, im

Fluß Paktolos zu baden, auf den dann die Gabe überging, so daß er zum

goldreichsten Fluß Kleinasiens wurde.

 
Kerstin Preiwuß / Leipzig / 1980
Letztes Buch: „nachricht von neuen sternen“, 2006
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Kerstin Preiwuß

You Are On Indian Land

 

                       Warum tragen sie ihr Leben auf ihren Fingernägeln?

                                            Cochise von den Chiricahua-Apachen

 

See them prancing

They come neighing

They come a horse nation

See them prancing

They come neighing

They come.

 

I.

 

Und sie redeten miteinander und tranken Tischwein

Und sie reichten einander die Hand

Und sie setzten sich auf ihre Decken

„Nu, Zivilisten, ihr seid wohl neu im Hobby?“

Es war die Indian Week der ostdeutschen Indianerfreunde, (genauer noch: der Indianisten)

 

Zwei Mädchen reiten vorbei

Es gibt Steakhäuser und Saloons, auf Industriebrachen weiden Bisonherden

Eine Straußenfarm gibt es und einen Elefanten-Überwinterungsplan

Drei Wolfsrudel, das vierte wird heimlich gejagt:

 

Young Wolf lief durch Wittichenau. Er war blind und hatte sein Rudel verloren.

Er war an den Menschen gewöhnt, wahrscheinlich hatte ihn einer verdorben.

Sie gaben ihn erst in den Zoo. Dann schläferten sie ihn ein.

Sie kannten das aus Buffalo Bill’s Wild West Show:

Die Zirkusse Busch und Sarasani,

auch Carl Hagenbecks Tierpark

zeigten Indianer aus Nordamerika,

den Indianer Black Elk und seine Gruppe Dakota.

Black Elk starb während der Tour.

Er wurde auf dem katholischen Friedhof von Dresden begraben.

Das waren die einzigen echten Indianer außerhalb Amerikas.

 

Die Datschen tragen Namen wie Sheriffs Office, Red Light District und Justice of Peace

Jedes Mitglied hat ein eigenes Häuschen

Die Mitglieder heißen Powder Face, Red Mokassin und Crow Chief.

Dies ist die Indian Week: eine Woche lang mal keine Türken.

Red Mokassin ist der aktuelle Häuptling.


II.

 

Powder Face kehrte nach der Kriegsgefangenschaft in seine Heimat zurück

Er wurde 1914 geboren und  meldete sich zur Front. Dort geriet er in sowjetische Hand.

Daheim war die ganze Tracht verbrannt. Das war in der Dresdner Bombennacht.

Sie trafen sich später in Hüttners Drogerie.

Sie waren nicht zu begeistern für sibirische Felljäger.

Sie waren die Kulturgruppe Indianistik „Old Manitou“

und Powder Face, der erste Häuptling der DDR.

 

Schon Friedrich Engels lobte die Indianer

in seiner Schrift über den Ursprung der Familie, des Privateigentum und des Staates

hieß es über die Verfassung der Irokesen:

Für Sklaven ist noch kein Raum, kein Stamm hat sich ergeben

Alle sind gleich und frei – auch die Weiber.

Hier wäre man gern Wahlsohn, als Kind hat man Blauvogel gelesen.

 
Kristiane Kondrat / Augsburg / *1938
Letztes Buch:“ Vogelkirschen“ – Kindheitserinnerungen, Bachmeier Verlag, München, 2000
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Kristiane Kondrat

 

 

DIE EINE HAND

hat eine andere gewaschen,

denn sauber wähnt am längsten,

wenn die Tage lang,

trotz kurzer Beine

und der Morgen schon

hat keine Stunde Gold

doch anderes im Mund

und an der Börse

 

Eine kranke Schwalbe

bringt lange keinen Sommer:

Alle Spatzen singe es vom Dach,

während die bunten Kühe

meiner Heimat wiederkauen

auf bunten Ansichtskarten

Grüße von daheim

und Bauernmädchen

gehen mit dem Kruge

so oft zum Brunnen

bis er endlich bricht:

Der neue Besen

fegt die Scherben weg

 

 

Kristiane Kondrat

 

 

DIE LETZTE UMFRAGE hat ergeben,

dass wir irgendwo sein müssten,

wenn man nach uns fragen sollte,

dass der Bahnhof hier bleiben sollte,

wenn Züge abfahren müssen,

dass jeder von uns eine Ausnahme sei,

die die Regel bestätige,

dass jeden Tag Gebrauchsanweisungen

dechiffriert werden müssen,

dass Hanswürste ernst genommen werden wollen,

und Täter nur dann zum Tatort zurückkehren,

wenn sie wiedergewählt werden

 

 

Kristiane Kondrat

 

 

DIE WELTWORTSCHAFTSKRISE ist beendet,

all die Definitionen erübrigen sich:

vom Recht des Erstgeborenen,

dem des ehrlichen Finders

und dem des Erfinders,

der es an den Zweitgeborenen

verkauft hatte

Und Recht als solches,

weil rechts und links

austauschbar sind

in der Spiegelschrift der Zeit:

Man hat für jede

zwischenwörtliche Beziehung

einen Menschen erfunden,

der dafür steht und fällt:

Fällt der Begriff,

so fällt auch

der dafür bestimmte Mensch,

der den Begriff genau

bezeichnen soll.

 

 

Kristiane Kondrat

Ein Vaterland

 

Die fliegenden Händler fliegen nicht,

die hängenden Gärten hängen nicht,

der springende Punkt springt nicht,

ein Irrgarten ist kein Garten der Irren,

eine Windhose keine Hose im Wind.

Ein Vaterland ist nicht das Land des Vaters

und auch kein Land von Vater geerbt,

ein Vaterland ist ein Begriff

wie fliegende Händler, hängende Gärten,

ein Vaterland ist Windhose und Irrgarten:

Das ist der springende Punkt

 

(Der Text ist in der Kultur-und Literaturzeitschrift “Spiegelungen” Nr. 2,

2007 erschienen)

 

 

Kristiane Kondrat

Winzig kleines böses Lied

 

Die Winzigen fühlen sich niemals klein,

die Mundschenken fühlen sich Mund,

die Schmutzigen aber wähnen sich rein,

die Eckigen geben sich rund

 

Die Händedrücker drücken die Hände,

Sprechblasen steigen und platzen,

es biegen sich Balken, es staunen die Wände,

unverbindlich lächeln die Glatzen

 
Leander Sukov / Berlin / *1957

Letztes Buch: „Perlensau - ausgewählte Gedichte“ Kulturmaschinen-Verlag, 2009, 

ISBN 978-3-940274-06-9

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Leander Sukov

Furcht

 

Ich fürchte mich

vor Euch

das macht mich stark

sind die Gesten

die Worte

hohl

in den Raum geworfen

habt Ihr die Bomben

Hohlkammergeschosse

Kollateralschaden bin

nicht nur ich

hab keine Fragen mehr

an Euch zu richten

ist ohne Sinn

sind Eure Kriege

nie geführt

glaubt Ihr wird

der Gegenschlag

sind ja noch nicht

gelegte Feuer

in Vorstädten und

Bundeswehrdepots

brennt es nicht kalt

genug um Eure Höllen

zu vereisen

 

 

Leander Sukov

Warm ums Herz - Kalt im Land

 

Wenn die Vorstädte brennen,

wird mir warm ums Herz.

Die Punks auf dem Marktplatz

erhöhen mein Sicherheitsgefühl.

Das einzige Braune, das hier brütet

sind die Spatzen.

 

Meine serbischen Nachbarn

kommen gut aus mit den polnischen.

Oben links hört jemand Strassenjungs.

Der kurdische Bäcker backt das Brot.

Die Mischung stimmt.

 

Wenn die Städte brennen,

wird auch wieder gelöscht werden.

Es kommt darauf an,

wer den Brand legt

und wer die Feuerwehr ist.

 

Noch ist es kalt im Land.

 

Aus: Perlensau, Kulturmaschinen, 2009

 

 

Leander Sukov

Die Ämter

 

Auf den Amtern

allgemeiner Frieden

In Schlangen stehen bewacht

Bittsteller nach Almosen an

In den Amtszimmern betteln

Aussätzige nach

Lebensgeld

In den Briefkästen

finden sich Bescheide

An den Türen läuten

Kontrolleure

Auf den Ämtern

allgemeiner Frieden

Die friedensstiftenden Maßnahmen

werden unterstützt durch

die Kriegsberichterstatter

Bild Dir ein schönes Leben ein.

Die Menschenwürde abgezäumt.

Auf Gnadenbrot

in Schlangen stehen Bittsteller

nach Almosen an.

 

 

Leander Sukov

Sonett vom Handeln

 

Und wenn ich schweige, stimm ich zu.

Und tu ich nichts, so handel ich.

Wenn ich nicht störe Eure Ruh

fällt Eure Tat am End auf mich.

 

Da ich nicht schuldig werden will,

an Eurem Handeln, Eurem Tun,

so darf ich länger nicht mehr still

und müde, träge, lustlos ruhn.

 

Denn sag ich nichts, kann niemand hören

dass ich verabscheu, was Ihr sagt.

Und tu ich nichts, kann ich nicht stören,

die Tat, die ich nur stumm beklag.

 

Denn Euer Unrecht stumm und tatenlos zu dulden,

heißt handelnd, schweigend sich am Leben zu verschulden.

 

 

Leander Sukov

Autobahn

 

Mit Erdengrau das Gelb verrührt

und unter einem blassen Himmel

liegt abgeerntet Feld an Feld.

Die Inseln welche Bäume tragen

und Büsche, kleine Teiche,

sind rot und braun und gelb.

Grün fast noch ist das Brachland.

 

Dazwischen grau das Band

der Autobahn, auf dem wir

uns dem Ziel der Fahrt

entgegen treiben.

Rasthöfe, die so tun,

als wären Bauernhäuser sie,

tragen Plastikähren an den Wänden.

 

In Mexico sind die Tortillas

so sehr im Preis gestiegen,

dass selbst die Bauern, die den Mais

anbauen, hungern.

Den Biodiesel hier kann einer tanken

gleich neben artifiziellen Bauernhäusern.

Und bei McDonalds gibt es Los Wochos.

 
Lisa Fitting / Duisburg / *1951
 
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Lisa Fitting

kurbeln

 

ausgezeichnet!

der Staat gibt

uns

wir wagen

 

uns

so

neu wie nie

beschenkt

auf Tour

egal wo

 

hin

der Staat

 

 

 Lisa Fitting

 

die wölfe

sollen ausgestorben sein

versteh ein mensch

wer heute massenweis

die schafe reißt

 

 

Lisa Fitting

kleinanleger

 

im Nichtschwimmerbecken

nicht untertauchen durchsichtig

bis auf die

haut die blinde haut

ohnmächtig

im Nichtschwimmerbecken kein warnschild

kein hinweis man bleibt ja mit

dem kopf über wasser nichts

passiert nichts

kann passieren

wie kommen wir

ins Nichtschwimmerbecken und

warum warum kein

ausgang kein aufgang und

der bademeister wirft wohl

nicht mal nen blick

kann ja nichts

passieren gibt’s den

bademeister

gibt es den

 

 

Lisa Fitting

 

 

die meere fressen weg

und flüsse trinken sich ins land und

zügig planvoll die fische

knabbern am grashalm verbiegen

ihn nicht und bleiben jetzt hier und

sehen was (was?) und

laichen oder

säugen und

saufen und

dann dann atmen und

flüstern nein brüllen

wir wohnen meerüber und grüßen vom grund

 
Lutz Rathenow / Berlin / *1952

Letztes Buch: “Gelächter sortiert” Gedichte, Ralf Liebe Verlag

Edition Die 10000, Weilerswist, 2008

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Lutz Rathenow

Golden Gate

 

If you're going to San Francisco....

Keine Blumen im Haar, eine Träne

will hinab zum Fluss. In diesem Moment

liebst du jenes Land. Auf dieser Brücke

von der einen zu der anderen Hoffnung.

The American dream. Überall die Netze

fangen den nicht ein: sieben jeden Monat

stürzen sich von hier hinab und fliegen.

Alle schauen Richtung Stadt, das Sterben

als Gebet.

 

 

Lutz Rathenow

Berchtesgaden, 07.10.2005

 

 

Der Weg in den Berg, himmelwärts.

Wo ein Wille ist, säumen Ihn Leichen.

Hier aber arbeiteten sie freiwillig, bezahlt.

Der Tunnel. Der Aufzug - Kapitän Nemo

lässt grüßen. Und weiter,.höher: ein Haus

in den Wolken. Das Volk, unten, überall

Steine (Sterne der Berge) zu deinen Füßen.

Geröll. Einer muss alles ordnen, bewegen.

Behauen. Dachte einer und dachte weiter

im Text: Auch Steine verdienen kein Mitleid.

 

Geschrieben nach einem Besuch von Hitlers Bergfestung, zufällig am

ehemaligen Feiertag eines wegvereinigten Staates.

 

 

Lutz Rathenow

Ansprache eines Wachsenden

 

 

Ich wachse.

Ich erlebe es täglich.

Naturlich wachse ich.

Schon immer bin ich,

sind wir gewachsen.

Damals schon schnell.

Und dann erst draußen. Regelmäßig

gemessen die ersten Monate.

Immer geprüft die nächsten Jahre.

In die Höhe! war die Devise.

Geht gar nicht anders, als zu wachsen. .

Die Fähigkeit zu wachsen, wächst mit.

Nein, wir wachsen nicht nur symbolisch.

Ganz real geht es nach oben.

Größer und größer erhebe ich mich.

Wer zurück bleibt, prüfe seine Gelenke!

Blockiert das Gehirn seinen Willen?

Höhenangst beim Blick in die Tiefe?

Einikurzes Schaudern - weiter geht es.

Dass der Himmel weichen muss? Übertrieben.

Wir wachsen in ihm unaufhörlich.

Auch, wenn das Messen schwieriger wird.

Auch,, wenn mancher mürrisch blinzelt.

Natürlich wächsern mit uns die Probleme.

Natürlich wachsen mit den Problemen wir.

Kräftig gereckt alle Glieder -

na also, wieder ein Stück geschafft!

 

 

Lutz Rathenow

Hartz 25

 

Aus Kostengründen, ab 1.1.2023:

Zusammenlegung von — der Grund

aller Kosten sind die Kosten. Mensch,

was der rostet. Und mäkelt herum

an seiner Suppe - also die Vereinigung

von Pflegeeinrichtungen und Friedhöfen.

Ein Kostenfaktorenminderungsangebot.

Anzustreben sei die Unterbringung

bestattungsnah.

 

 

Lutz Rathenow

Die Vogelgrippe und Europa

                                                                     Im Winter 2006 geschrieben

 

Auch sie rückt immer näher, es reicht nicht mehr

ein paar Tauben vergiften zu gehen im Park.

Das Bedürfnis zu streicheln und das zu entsorgen.

Die Reinheit der Lieder: kommt die Grippe geflogen,

sterben zwei Schwäne zuerst. In Italien. Auf Rügen.

Der Tod sucht sich schöne Orte. So viel Wildgeflügel

töten wie möglich.. Alle meine Entchen schwimmen

nicht mehr in dem See, gekillt und gegrillt mit allen

Erregem. Hoffentlich. Die kommen aus dem Osten,

dem Süden. Alle meine Ängste, alle. Umfühlen und

neue Worte lernen. Stallpflicht. Auf, auf –

zum lustlosen Jagen. Für eine vogelfreie Welt.

Es leben und bleiben die Lieder, tirili tiriwie.

 

 

Lutz Rathenow

Gerüche

 

Gerüche sind meistens peinlich oder

alle haben sowieso meist Schnupfen.

 

Ostdeutsche Realitäten riechen streng,

mindestens dürftig die Grippe, eine

kommunistische Erfindung, um alle Nase

zu beschützen. Vor dem Westen, der duftet

durch Mauer und Minenfelder. Gerüche

helfen nur kurz, wenn der blutsüße Beinrest

andere Reize verdrängt. Die Kindheit, ein

einziges Duftnetz. Bis allem widerriecht:

der Empörungsschweiß

 
Marianne Glaßer / Germersheim /*1968
Letztes Buch ein Lyrikband in der Edition YE, 2004
(ZURÜCK)

Marianne Glaßer

 

 

Das Gedicht, das immer wieder

neu einsetzt

 

hinter der Sonne

die Frierende wärmt

und Felder verbrennt

 

Das Gedicht, das immer wieder

neu einsetzt

 

hinter dem Wind

der Apfelblüten befruchtet

und Hütten einreißt

 

Das Gedicht, das immer wieder

neu einsetzt

 

hinter dem Regen

der Gras wachsen lässt

und Dörfer auslöscht

 

Das Gedicht, das immer wieder

neu einsetzt

 

hinter dem Menschen

der Frierende wärmt und

Felder verbrennt und

Hütten einreißt und

Dörfer auslöscht

 

auch

da –


 

 

Marianne Glaßer 

 

                               As your hand ajusts your tie, people die.

 

I

 

Wenn ich lese, schreiben andere.

Wenn ich schlafe, wachen andere.

 

Wenn ich esse, hungern andere.

Wenn ich heize, frieren andere.

 

Wenn ich lebe, sterben andere.

 

II

 

Wenn ich schreibe, lesen andere.

Wenn ich wache, schlafen andere.

 

Wenn ich hungre, essen andere.

Wenn ich friere, heizen andere.

 

Wenn ich sterbe, leben andere.

 

III

 

Wenn ich schreibe, schreiben andere.

Wenn ich wache, wachen andere.

 

Wenn ich hungre, hungern andere.

Wenn ich friere, frieren andere.

 

Wenn ich sterbe, sterben andere.

 

IV

 

Wenn ich sterbe, schreiben andere.

Wenn ich sterbe, wachen andere.

 

Wenn ich sterbe, hungern andere.

Wenn ich sterbe, frieren andere.

 

Wenn ich sterbe, sterben andere.

 

V

 

Wenn ich sterbe, sterben andere.

Wenn ich sterbe, sterben andere.

 

Wenn ich sterbe, sterben andere.

Wenn ich sterbe, sterben andere.

 

Wenn ich sterbe, sterben andere.


 

 

Marianne Glaßer

 

 

Hinkend

gehen wir morgens

zum Briefkasten

und öffnen der Post

die Tür.

 

Heraus fällt

ein schwarzes Kind

mit sehr weißen Zähnen

das uns lächelnd

die Hände hinhält

und um Spenden bittet.

 

Auf dem Rückweg

vom Briefkasten

mit dem Kind

in der Hand

kommt uns langsam

die Hoffnung abhanden,

ihm genug in die Hände

legen zu können,

dass es zu lächeln aufhörte

und aus dem Bild verschwände.

 

Und so werfen wir es

im Zimmer

in den Papierkorb.

Dort verwandelt es sich

in einen Hund

und beißt uns

ins Bein.

 

Hinkend gehen wir morgens

zum Briefkasten

und öffnen der Post

die Tür.

 
Michael Bärnthaler / Wien / *1985
 

(ZURÜCK)

Michael Bärnthaler

SUMMER OF LOVE

 

paul defiliert
vor
dem erschießungs-
kommando

ich liebe die bullen
stammelt
paul errötend
diese schweine

und oh die
unschuldige
polnische ebene
soff millionen liter blut

die weiße
kreide
unserer hände
im roten licht der endlich oh endlich sterbenden sonne

eigentlich so paul
sei deutschland
ja tot
und trotzdem könnten wir nicht leben

 

 

Michael Bärnthaler

BÜRGERBLOCK

 

wohlgeformte schreie der hochfinanz
genuss
der herzmuskelgrammatik
genug

mein ausgespucktes herz
muss
reisen um die ganze ganze
welt

es hat sich ausgesprochen
welt-
bank in den gestürzten räumen
rausch

 

 

Michael Bärnthaler

SCHLAGT DIE GERMANISTIK TOT

 

ok es ist
zeit
für programmatik politik
und so
und
nur
weil ich die
welt
nur
als ästhetisches
phänomen bla bla heißt das noch lange
nicht
dass ich
nicht
doch
auch
politik machen große politik machen
könnte was
ich hiermit
ja bereits getan
habe

ok?

hier noch eine
zweite
strophe
für die fans
mit inhalt mit forderungen politik
ich
will die transnationalen konzerne
liebhaben
dürfen
und mich nicht um arme menschen
kümmern müssen
ich
will nur dieses isolierte individuum
durch die welt
pushen
bis es tot umfällt
und nicht mehr weinen
muss

 

 

Michael Bärnthaler

REQUIEM FÜR DEN KOLLATERALSCHADEN

 

enteigne mich
sagte paul
als er auf dem flatscreen den krieg
sah

wir tranken likör in der schwere
der nacht
und unterhielten uns
nicht

die nachrichten wurden gesprochen
wie
gebete für tote fast ein bisschen
zu feierlich

 
Mischa Strümpel/ Schwäbisch Hall / *1976 
 
(ZURÜCK)

Mischa Strümpel

 

 

Arbeiten Sie eigentlich an großen Notwendigkeiten?

Ich dachte an Ladenschluss, den Supermarkt und

die verpassten Schnäppchen, Schwärmereien, die

ich mir jetzt an den Hut stecken konnte. Kratzend,

in hohen Tönen, auf eine Messerschneide gebracht.

Was? Puffreis natürlich! Wir duellierten uns. Damit.  

Die Sonntage wie Grabesruhe, bald, und schlichtes,

saftiges Fleischtekenleben, wir, ab                jetzt. 

 

Mischa Strümpel

17mal Monsun

                                                        But this yarn about unknown

                                                        islands and monstrous gods.

                                                                         (King Kong, 1933)

 

Hier die Glückssache, hier

der Klee. Im Fensterspalt

 

Lametta, das Rauschgold,

mit dem die Luft spielt, der

 

Glücksfall, der das Glück fällt.

Eine Geste, die einen verliebt

 

macht fürs ganze Leben. Eine

Reise in die Verstümmelung,

 

Gesicht und Hände verlieren, das

Kostüm des Königs der Monster. Ich

 

trage rosa, beherrsche die Suitmation,

bin Fanfare und Pfuhl. Was bist du,

 

Papier gegen das Licht gehalten?

Ein Gedicht über Monstrositäten.

 

Zeige dich, bezeichne mich. Ich

danke Fragmente einer Sprache

 

der Liebe. In aller Grellheit.

 

 

Mischa Strümpel

Eau de Sentiment

 

in Anschlag gebracht

meine tätigen Kräfte

 

einer unruhigen Lässigkeit

verstimmte Shotgundynamik.

 

Werter Geist, ach, ein toller

Schmerz, bewohne mich mit

 

Zerstreuung. Alles ist einfach 

eine Hoffnung „…schieß mich

 

ab“ die einrastenden Augen

in blaue Röcke, die Güter der

 

Gefährlichkeit, den Duft der

Herrlichkeit, die Pulver

 

mischung am Kopf: das zieht

halb Europa an, die Bildwesen

 

unter den Lidern die Nacht:

„Ich bin in der Überzahl.“ 

 

 

Mischa Strümpel

Astrobewegung

 

wie ein Ford Taunus so

breit hinein, Opferqualität

 

futsche Farbe, die liftet

und alle Wunden aufgemalt

 

„ich habe fünf Finger im Kopf

und krieg sie da nich raus“

 

es ist die geringe Distanz der

Weintraube zwischen Wasser

 

und kernlosem Obst, der himmel

öffnende Bacchusdienst, Pan

 

ic at the disco: alles, was be-

geistert, trägt die Farbe der Nacht,

 

angenickt, eines metallischen

Tags: crash into me, please.

 

 

Mischa Strümpel

mehr nicht

 

illuminierte Stadt: „die Leucht!“

 

-stoffröhren am Mittelschiff: wirre Streben

arrangiertes kreuz und quer lichte

 

Geometrie bald Buch 

-staben: S O u n d, und so;

 

aber ich, das Vibrierende

 

der Stadt, kann beim besten

Willen kein HKNKRZ erkennen.

 
Philipp Hager / Wien / *1982
Letztes Buch:   „Das Spektrum des Grashalms“, Arovell, 2008, ISBN: 9783902547569
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Philipp Hager

FLIEGENPAPIER

 

Im Radio tönt ein Politiker:

„Die Gesellschaft muss

hier eine Stütze sein ...“

Er macht weiter

in diesem Ton,

und ich frage mich:

Was soll das sein –

Gesellschaft?

Ich meine, geh runter

auf die Straße,

und finde zehn Menschen,

die sich wirklich gleichen,

in Wissen, Anschauungen,

Erfahrung und so weiter.

Es ist so gut wie unmöglich!

Wie soll es da funktionieren,

sechs Millionen Menschen,

in einem Wort zu vereinen?

Es ist eine Seifenblase.

Eine Fata Morgana.

Aber ein guter Wink,

wie wenig

ein jeder von uns

da oben

bedeutet.

 

 

Philipp Hager

EIN GANZ GEWÖHNLICHER TAG

 

Platzende Augenbrauen, splitternde Zähne,

wie aus einem Eiswürfelbecher gebrochen.

Ein hechelnder Junge auf den Knien, der

auf einen schweißnassen Bauch ejakuliert.

Abgemagerte Diamantsucher, die in Sierra

Leone durch dünnschissfarbene Erde kriechen.

Und irgendwo ist Frühling.

Ausgebrannte Autowracks, zerklüftete Städte,

grauer Asphalt, der unter Panzerketten birst.

Ein zugefrorener See, auf dem mit Schnüren

ein Labyrinth gespannt wurde, und Kinder,

die lachend und tapsend den Ausweg suchen.

Einstürzende Neontürme, tote Träume.

Und eine Handvoll Menschen, die glücklich sind.

 

 

Philipp Hager

POLITIK

 

Politik

ist wie Fußball.

Wenn man sich dafür interessiert,

sucht man sich eine Mannschaft,

hegt Sympathien und Antipathien,

eifert mit und freut sich, wenn ein

Tor geschossen wird.

Aber es bleibt, was es ist: Ein Spiel.

Es vollzieht sich,

und wirkt sich aus,

aber eher so

wie das Wetter

oder eine Darmgrippe.

Du kannst dich auf die eine

oder andere Seite stellen,

kannst umsichtig Kritik üben,

kannst dir einen Schal umhängen

und dir die Seele aus dem Leib

schreien.

Am Verlauf ändert das nichts.

Er gehorcht eigenen Regeln,

Dynamiken und Mechanismen.

Du kannst dich diesem Sport auch

verschreiben, trainieren, und irgendwann

in die Mannschaft kommen.

Aber du wirst feststellen,

dass du eine starre Position spielst,

mit genauen Vorgaben, Taktiken,

und Anweisungen, wann du den Ball

treten darfst, und wann nicht,

und wohin du spielen musst.

Denn es geht gar nicht um Tore,

nur darum, das Publikum

ständig bei Laune zu halten.

Wenn du gegen diese Regel verstößt,

zuviel Einsatz zeigst, und die

gichtbrüchigen Säcke hinter dir lässt,

(ein einziger, ehrlicher Satz genügt)

bist du ganz schnell wieder

draußen.

Und sie holen sich einen anderen,

der besser gehorcht.

Politik

ist wie Fußball.

Unterhaltung für Unbedarfte.

Auf den jubelnden Rängen,

bestärkt von der gewichtigen

und facettenreichen Berichterstattung,

kann man sich schnell einreden,

es sei wichtig, dass heute

diese oder jene Mannschaft gewinnt,

weil das

diese oder jene Auswirkungen hat.

Aber hinter den Kulissen will niemand

Auswirkungen. Ebenso wenig wie die

Spieler. Sie wollen nur die Partie am

Laufen halten,

auf ihren Positionen bleiben,

ein paar harmlose Pässe spielen,

gerade lang genug,

um mit einer saftigen Pension

und einem großen Namen

abzutreten.

 
René Steininger / Wien / *1970
Letztes Buch: „rinforzando“, Gedichte & Geschichten, Bucher Verlag, Hohenems, 2008
(ZURÜCK)

René Steininger

Wolkenkratzer

 

Über die Hochhäuser

von Manhattan

heißt es hier

dass sie

an den Wolken

kratzten

 

In ihren Schatten

auf der bloßen Erde

schlafen jene

die dabei

aus ihren

fielen

 

New York

 

 

René Steininger

Auf ein Atatürk-Denkmal

 

Sein ausgestreckter Arm

weist

ihren Traum

vom Himmel

auf Erden

pragmatisch

ehern

zurück

 

Ein ganzes Land

begräbt

die frommen

Hoffnungen

der Ayattolahs

unter seinem

bleiernen

Stiefel

 

Nur in Konya

werden sie

schwerelos

von drehenden

Derwischen

wieder

zurückgeschraubt

 

Antalya

 

 

René Steininger

Hier und dort

 

Ein Dorf

zwei Welten:

Hier

die Ansässigen

und dort

die Zigeuner

 

In den Häusern

oben

manchmal

ein Vorhang

der sich

einen Spalt weit

öffnet

 

In den Hütten

unten

ganzjährig

nur Fenster

die nicht

schließen

 

Jasov, Ostslowakei

 

 

René Steininger

bruchlandungen


Die Hühner
ihrer Fabrik
erzählte mir
eine Farmerin
fielen
nach 16 Monaten
wie Kalenderblätter
tot
von der Stange

Exakt
16 Monate
sagte sie
um als Schnitzel
auf der Speisekarte
einer Imbisskette
zu enden
Das ist
nicht viel

aber Nationen
sind schon
für weniger
gefallen:
Für eine
Semper Augustus*
im Garten
eines holländischen
Spekulanten

Es ist mehr
als der Passagier
in der abgestürzten
Boeing
hatte
oder Juda
nach der Weissagung
Ezechiels

blieb

* Die Semper Augustus was während der großen Tulpenmanie in

Holland im 17. Jahrhundert ein begehrtes Spekulationsobjekt und

erzielte Höchstpreise, bevor die Blase im Februar 1637 platzte.

 
Rolf Bödege / Frankfurt
 
(ZURÜCK)

Rolf Bödege
Unverschämt

Arbeitsplätze gibt's genug,

nur:

Diese Hängemattenbesetzer

wollen Geld fürn Arbeitsplatz,

und nicht zuwenig,

Sie wollen Essen, Kleidung, Wohnung,

sogar Kino, Disco,

später Rente.

Kein Gedanke

an die Gemeinschaft,

die sich für sie

aufopfert.

 

Arbeit schafft Sinn,

Befriedigung,

Selbs Verwirklichung.

Ist das nicht

Lohn genug?

 

 

Rolf Bödege
Zerstreutheit

 

Ich suchte Zerstreuung

und fand sie.

 

Es war einmal:

Der Sämann streute den Samen

weit ausholend

auf seinen Acker.

Jetzt machts die Maschine.

Vorher kommt aber

der Miststreuer.

Seine Frau braucht

Pfeffer-, Salz- und Zuckerstreuer.

Bei Schnee und Eis

kommen die Streufahrzeuge.

 

Dann gibts da noch

Streubomben.

(Soldatsein ist ein schöner Beruf.)

Sie sind nicht

so praktisch.

Sie machen nur Löcher

überall hin.

 

Ich suchte Zerstreuung

und bin zerstreut.

 

 

Rolf Bödege
Gemein nützig

 

Unternehmer müssen verdienen

Unternehmen müssen verdienen

Banken müssen verdienen

Aktionäre müssen verdienen

Der Einzelhandel muss verdienen

Der Grosshandel muss verdienen

Der Vieh- und Menschenhandel muss verdienen.

 

Weil alle die

Wenn sie mehr verdienen

Mehr konsumieren oder investieren

Damit

Unsere Arbeitsplätzchen

Erhalten.

 

 

Rolf Bödege
Frieden und Freiheit

 

Für den Frieden kämpfen

Ist eine gute Idee

Der Friede wird sich freuen

Wenn er's hört

 

Meist ist es zu laut

Da versteht er kein Wort

Weil alle

Gerade für ihn kämpfen

Und Kampf

Macht Lärm

 

Der Friede ist

Schwerhörig

Nörgelnd

Nicht zufriedenzustellen

 

Die Freiheit

Ist seine Schwester

Blind

Sieht nicht

Wie viele in ihrem Namen

Kämpfen

Fangen und foltern

 

Sonderbares Geschwisterpaar

Blind und taub

Undankbar.

 

 

Rolf Bödege

 

 

Willst Du Dich beschweren

Karl

dass du in den Krieg musst?

 

Du hast es gut::

deine Kinder dürfen nicht umgebracht werden

deine Frau auch nicht

deine Oma auch nicht

nicht einmal vergewaltigt dürfen sie werden

 

deinen Arzt müssen sie leben lassen

deinen Sanitäter auch

das Krankenhaus dürfen sie nicht bombardieren

 

nur dich dürfen sie umlegen

und auch das

nur waidgerecht.

 

Willst du dich da beschweren

Karl?

 

 

Rolf Bödege
Tierisch

 

Der Tiger -

na was wohl:

tigert.

Der Ochse ochst.

Löwt der Löwe?

Der Elefant ist nicht gesund,

er hat die Elefantiasis.

Der Vogel - natürlich -

vögelt;

darüber

höhnt das Huhn, obzwar selbst ein Vogel.

Das Krokodil

dealt derweil Kroko,

während der Mensch

- nein das nicht -

mäkelt, mäkelt,

missbraucht,

marschiert.

 
Sabina Lorenz / München / *1967
 
(ZURÜCK)

Sabina Lorenz
Abend, offen

 

In den Straßen wächst Licht (take your time), tröstlich

bunte Einkaufstüten und bunte Kinder, sagt sie, Namen

im Mund, Luxus für alle im Lidl. So entstehen Räume.

Nach hinten raus gibts Brot von gestern, kaum

ahnt man wie sicher die Landschaft geworden ist. Und

unter der Linde, Lidl-Linde, sagt sie, parken tröstlich

bunte Wagen, Baumtraum, sagt sie, also

Parkplatz, Menschen, Einkaufstüten, ob das

wohl für Linden ewig sei, und wie lang

für Linden ewig sei, also ewig, sagt sie, ewig also

ist genauso, als ob es das nie gegeben, sagt sie

eine Zigarette lang, dann erlischt das Licht (take

away) übern Samstagabendparkplatz, nach hinten raus

ist die Linde eine sichere Geliebte. Den Ort zu bleiben

gibts dort auch.

 

 

Sabina Lorenz
Fehlende Wetterlage

 

Wie die Dinge scharf stellen, z.B. an Sonntagen

wenn es regnet, und du sitzt in einem Nest

wie dem Westkreuz fest, grillst über einer Kerze

Käse. Denkst

an Echsenbeckensaurier (an was auch sonst)

eingezäunte Ameisenstraßen, und überall steht was

von Schwänen, die sich in Tretboote verlieben.

Entwöhntes Vergessen. Kein Schauer

in diesem Klima, wo nicht mal der grüne Fraß

verblüfft, haften weiß Serotonin-Wiederaufnahme

hemmer. Es ist peinlich, überhaupt Nerven zu haben.

Geht so Furcht. Wähnen

wir Zukunft als Fortschreibung eines ewigen

Heute. Jeder Kontinent ist im Krieg. Die Säuernis

verbrühter Namen, wenn sie alle auf einmal

die Straßen füllten. Dafür

ist der Dienstleistungssektor ausbaufähig

Interessierte sollten sich beeilen, immer

in Erwartung, dem Glück zu begegnen.

Ein billiges Nintendo-Spiel. Wer herausfindet

wie es geht, kommt ins nächste Level.

Im Vergleich die Sammlung Zuckerwürfel, manche

krümelig vom vielen Tragen, die kannst du

unter deinen Sohlen hören.

 

 

Sabina Lorenz
Über Diesseitiges und mittendrin

 

Jetzt: denk die Abwesenheit, als wärs

Zeit, Platz zu machen für deine schwänefütternde

Nachbarin, die dich zur Tagesschau um 20 Euro bittet

(und brütet Schwaneneier aus. In ihrer Wohnung.

In ihrer Wohnung.) Platz

                    für die großen Träume der Erzieherinnen

von der 16.000-Euro-Frage

nicht enttäuscht zu werden: Wie viel

ist ein Menschenleben wert? Z.B.

für Frau K., die Herrn A. füttert

wickelt, wäscht.

                          Zieh den 50/50-Joker. Die Antworten:

- unter 10 Euro   - über 10 Euro   Passé. (Aber

brütet Frau K. Schwaneneier aus.) Zeit

Platz zu machen für die Nacht, für Herrn A.

seine Freunde im Fernsehen (dort

sieht er sich besser als im Spiegel). Alles in allem

                                             zu langsam für das Glück. 

Der erfolgreiche Paarmensch

hat rechtzeitig auf Gold spekuliert und sich vervierfacht.

Was es wohl ist. Etwas wie ein Organismus

im diesseitigen Raum der Peep-Shows, wo die Zukunft

gehandelt wird. Etwas wie

                            Abwesenheit. Denk die Abwesenheit

der schwänefütternden Nachbarin, die Abwesenheit

der Erzieherinnen, von Frau K. Und was ist mit Herrn A.

seinen Freunden im Fernsehen. Als wärs

ein Schwan, der seinen Schatten einschwimmt.

 

 

Sabina Lorenz
Tide

 

Bohrinsel links. Am Horizont. Windpark

rechts. Norfolk, England jenseits. Unsichtbar.

Oben Möwen. Schreien im Wind. Unten

Muschelschalen. Weichtiere, tot, knirschend

und ein nach Wasser ringender

Fisch, das Maul gesperrt. (Wie klingt

Fischeschreien.) Kleine schwarze Klumpen

Öl in Algen verhangen. Und Sand. Sticht

im Schuh. Am Spülsaum Schaum.

Wir laufen der nächsten Landmarke entgegen

(Weichtiere, frittiert). Kleinen schwarzen Löchern

davon. Keine Tapeten mehr, die knistern. Keine

Antworten auf Fragen, an die wir uns nicht

erinnern. Wir pflücken

Schnecken von  zerfetzten

Fischernetzen. Wir träumen

uns als junge Hunde. Den Sommer

in Vollversion. Erzählen

von Sandburgen. (Neptun

im zweiten Haus.) Reden

die Schönheit notwendig. Den Weg

über Fußballplätze inmitten der Dünen

zurück zum Center Park. Beach Factory.

In Blau. Auf toten Weichtieren gebaut. Drinnen

knistern Tapeten. Raufasern.

 
Sabine Hennig-Vogel/ Lutherstadt Wittenberg / *1962
 
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Sabine Henning-Vogel

Endzeitstimmung

(2008)

 

Kein Finger zuckt im Tintenmeer.

Die Nachtlaterne brennt nicht mehr.

Kein Paar übt sich in Nächstenliebe.

Die Maus fängt von der Schlange Hiebe.

Kein Held kämpft mehr im Panzerhemd.

Die Lieder sind uns alle fremd.

Kein Lebenshorn, nur Meeresstille.

Zum Atmen fehlt mir fast der Wille.

 

 

Sabine Henning-Vogel

Zwanzig Jahre Mauerfall

(2009)

 

Die Mauer ist gefallen.

Den Ossis ist’s passiert.

Geht’s uns nicht allen besser?

Sind demokratisiert!

 

Die Mauer ist gefallen.

Und doch – was nützt es mir?

Ich will gar nicht ins Ausland,

ich bleibe lieber hier!

 

Die Mauer ist gefallen.

Westkaffee im Regal.

Da ich viel lieber Tee trink’

ist mir das scheißegal.

 

Die Mauer ist gefallen.

Das Werk macht gerade dicht.

Den Abendkuss von Papi –

den gibt es heute nicht.

 

Die Mauer ist gefallen.

Und ich bin eine Frau.

Heut’ gilt zweihundertachtzehn,

studier’ ihn grad genau.

 

Die Mauer ist gefallen.

Und Fragen hab’ ich auch.

War es nun früher besser?

Ja, doch – für meinen Bauch.

 

Die Mauer ist gefallen.

Ein Feiertag muss her.

Ein Tag zum Jubilieren?

Ein freier Tag – nicht mehr!

 

 

Sabine Henning-Vogel

Finanzkrise

(2009)

 

Vor der Börse: Bulle und Bär.

Beide lachen schon lange nicht mehr.

Geiz ist geil und maßlos die Gier.

Nein, nicht drei Prozent oder vier,

acht bis zehn sollten es sein.

Arbeitslos ist das Sparschwein.

 

Krise heißt das böse Wort.

Und das Geld ist einfach fort.

Höchst fatal, bemerke ich,

aber diesmal nicht für mich.

An meinem kleinen Sparguthaben

kann ich mich auch in Zukunft laben.

 
Jürgen Flenker / Münster / *1964
Letztes Buch: „das argument der kletterrosen“, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt, 2007
(ZURÜCK)

Jürgen Flenker

Anfang April

 

Wind zerrt hart an gebündelten Säcken,

gefährdet gelbe Spaliere von Müll.

Ringsum frühlingserwachende Hecken:

Momentaufnahme Anfang April.

 

Die Eintopfwoche zieht ihre Fäden.

Ein Müllmann kehrt vor der eigenen Tür.

Um achtzehn Uhr dreißig schließen die Läden.

Ein Rollgitter kreischt wie ein ängstliches Tier.

 

Im Vorortzug bricht sich ein Schrei an den Scheiben.

An der Brandmauer steht: Ricardo war hier!

Mit Arbeit lässt sich die Zeit nicht vertreiben,

die Zeit ist ein Schatten und wandert mit dir.

 

Am Standort Deutschland drehen sich Kräne.

Ein Rabenflügel wischt flüchtig vorbei.

Im Arbeitsamt beißt ein Mensch auf die Zähne.

Geld ist härter als Haferbrei.

 

Um ewig rauscht die alte Klage,

die immerwährende Litanei:

Wacht auf, Verdammte eurer Tage,

wer trampelt, tritt sich schließlich frei.

 

Und Fortschritt rostet in stillen Kammern.

Weisheit studiert den Eulenflug.

Stillstand muss mit Katzen jammern.

Aus Wolfsgeheul wird keiner klug.

 

Am Standort Deutschland wandern die Scheine –

und bleiben doch stets in einer Hand.

Brot ist  weicher als Pflastersteine.

Noch immer also herrscht Ordnung im Land.

 

Vorüber rauschen getunte Rabatten.

Wer trennt hierzulande den Wohlstandsmüll?

Rot flammt der Abend, die Nacht wirft Schatten:

Bestandsaufnahme Anfang April.

 

 

Jürgen Flenker

alte schule

(den kindern von beslarn)

 

so bald geschnallt

das ist die härte

das leben selbst

glaub nicht an wunder

die alte schule brennt

wie zunder und

wer jetzt nicht rennt

ist doppelt schnell

verreckt und alles muss

versteckt und muss

verschlagen sein ein

sterbenswort bleibt dir

im hals allein der

mund bleibt stumm

und wer nicht fragt

bleibt auch gesund

es regnet asche regnet schlaf

wer hört wer rief

wer stört wer schlief

in flammen weich und bunt

ein wind ein kind

fuhr in den rauch

es bricht die mauer

ohne grund

und alles andre

gildet nicht

 

 

Jürgen Flenker
zerstreuung

 

am schlimmsten ist es sonntags

da kommt zur einsamkeit der macht

noch das geschrei der massen vor den toren

mitunter lässt der herrscher dann

zu ihrer und seiner zerstreuung

ein blutbad anrichten

 

nicht dass es ihm dann besser ginge

allein wie soll man sorge tragen

für die zukunft seines volkes

bei diesem lärm

 

später schweift sein blick über den platz

carraraweiß nach der säuberung

und der himmel trägt schwer

an einem blau

das ihm keiner abnimmt

 

 

Jürgen Flenker

waldschmerz

 

es geht kein ruck

durch diese wälder

der widerstand der blätter

auf dem nullpunkt

ein eisgrauer specht

klopft schwach auf totes holz

 

es geht um schadensbegrenzung

im kahlgeäst

das dünne lied der drossel

beschwört den status quo

und in den vorgärten

stehn die leitern morsch im wind

 

bestandschutz überall und doch

in den rabatten rumort es

mit stumpfen äxten

krauchen eliten durchs unterholz

moosgepolstert sprießen

die alten ideen ins kraut

 

 

Jürgen Flenker

feld, aufschwung

 

die talfahrt stoppte abrupt

auf einer lichtung ein bild

von einem sommer wir glaubten

an die nachhaltigkeit des grüns

und schluckten es wie ein placebo

die wolken weiße fahnen

die gedankenbestie auf dem rücken

streckte alle viere in den wind

der himmel bilanzierte unterm strich

starke zuwächse an blau

wie auf bestellung tauchten felder auf

nur krähen fielen aus dem rahmen

doch das überangebot an raps

hielt keiner neiddebatte stand

 
Stefan Heuer / Burgdorf (Hannover)/ *1971

Letztes Buch: "honig im mund – galle im herzen",68 lyrische Montagen

zur. RAF, Lyrikedition 2000, 2007

(ZURÜCK)

Stefan Heuer

02. Juni 1967

Unruhen beim Besuch des persischen Schahs,

Tod Benno Ohnesorgs.

 

bereits am frühen nachmittag der auftritt der jubel-

perser, busweise das gekaufte hurra gegen die

skepsis einer minderheit, reza pahlevi und seine

 

frau, alles andere als gewöhnliche touristen / der

eintrag ins goldene buch, schah-schah-scharlatan,

das gefecht zunächst noch mit worten, später die

 

neutrale zone fest in persischer hand, totschläger //

abends vor der deutschen oper: drinnen die zauber-

flöte, draußen die leberwurst-taktik (nehmen wir

 

die demonstranten als leberwurst, nicht wahr, dann

müssen wir in die mitte hineinstechen, damit sie

an den enden auseinanderplatzt), die polizei, dein

 

freund und helfer – die knüppel der greiftrupps,

die steile karriere vom romanistikstudenten zum

rädelsführer / schnitt / unauslöschbar das bild mit

 

der frau, die den kopf des toten stützt, mehr als

zufällig das »d« im rücken wie ein dolch, der volks-

wagen wie hohn: es besteht leider der dringende

 

verdacht, dass auf benno ohnesorg auch dann

noch eingeschlagen wurde, als er schon tödlich

getroffen am boden lag; die lunte entzündet und

 

nicht mehr zu löschen, und nicht mehr zu löschen

 

Aus: "honig im mund – galle im herzen", 68 lyrische Montagen zur Geschichte der RAF, Lyrikedition 2000, 2007               

 

 

Stefan Heuer

09. November 1974

Holger Meins stirbt an den Folgen des Hungerstreiks.

 

schweigsam und hager, zelluloid bereits in der wiege,

gewissensgeprüft, bewegte bilder wie magneten, das

öffentlich-rechtliche schiff für die suche verlassen, die

 

im boot hätte enden können (stattdessen: festschnallen,

zwei handschellen um die fußgelenke, ein dreißig cm

breiter riemen um die hüfte ... von rechts der arzt auf’n

 

hocker mit ’nem kleinen brecheisen) / starbuck auf dem

weg, links links zum bäcker zur demo, der dreiminütige

alleingang, s/w cocktail-werbung, der schritt zur tat usw.

 

usf. (damit geht er zwischen die lippen, dann zwischen

die zähne und hebelt die auseinander) und schnitt: ein

skelettierter mensch, zweiundvierzig kilo mit bart, fern

 

jeder hungersnot die selbstbestimmte dürre (von links

die maulsperre. verwendet wird ein roter magenschlauch,

mittelfingerdick) // ein ende nach shakespeare, applaus

 

 

 

Stefan Heuer

05. September – 18. Oktober 1977

Gefangenschaft Hanns Martin Schleyers.

 

schleyer has left the vw-bus, die nachricht aus dem

radio, auch im volksgefängnis zieht das fernsehen

nach, der kanzler in aller bürger ohren (sie mögen in

 

diesem augenblick ein triumphierendes machtgefühl

empfinden. aber sie sollten sich nicht täuschen) / das

erste polaroid, elf namen auf papier, in großer runde

 

meinung: kein wunschkonzert im deutschen herbst /

fokus: am renngraben die unverbindlichkeit in beton,

babynahrung für nervöse mägen, verzögerung und

 

lebenszeichen, die suche nach einer idee, nach der

idee; das gleiche gesicht, das immer gleiche gesicht:

im weidenkorb nach den haag, vollpension im hause

 

etna, schon bald die flucht vor heißen spuren, end-

station brüssel: das kommando dünnt aus, in bagdad

ein schritt in die falsche richtung, ein schritt ins leere,

 

stillstand (ich sprach von entscheidung und dachte

nicht an ein jetzt über einen monat dauerndes dahin-

vegetieren in ständiger ungewissheit) / tag für tag die

 

kleine lage, pleiten, pech und pannen: zur richtigen

zeit vor der richtigen tür (frau lottmann-bücklers zahlt

bar und im voraus, große scheine), der älteste sohn,

 

aufgewogen in dollar/mark/franken/gulden, indiskret

par excellance – das bundesverfassungsgericht ein

strohhalm, eingeknickt und unbegründet – mag sein,

 

die hoffnung stirbt zuletzt – doch sie stirbt, sie stirbt

 

Aus: "honig im mund – galle im herzen", 68 lyrische Montagen zur Geschichte der RAF, Lyrikedition 2000, 2007

 

 

Stefan Heuer

18. Oktober 1977

Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin

begehen Selbstmord.

 

stammheim null uhr achtunddreißig, das urteil aus dem

radio in die führenden köpfe, jetzt, da die arbeit erledigt

war; die verschiedenen wege zu gehen: ein strick für

 

hals statt strom, ein messer, zweimal der druck gegen

den schädel, einmal die schläfe, einmal der hinterkopf,

die taktik des feindes perfekt imitiert (in den kopfhaaren

 

der mittelliniengegend zeigen sich zwei lochdefekte der

kopfschwarte) / und der mythos vom mord, die falsche

fährte für den fanblock – der sohn des wüstenfuchses,

 

sein wille, dass feindschaft mit dem tode enden möge

 

Aus: "honig im mund – galle im herzen", 68 lyrische Montagen zur Geschichte der RAF, Lyrikedition 2000, 2007

 

 

Stefan Heuer

27. Juni 1993

Polizeieinsatz auf dem Bahnhof von Bad Kleinen;

RAF-Mitglied Wolfgang Grams und ein Polizeibeamter

kommen ums Leben.

 

eine heiße spur, auch nach jahren nicht erkaltet: ein

v-mann auf der brücke eines untergehenden schiffes,

im logbuch ein kurztrip an den schweriner see, volle

 

fahrt voraus; der peilsender im schlepptau füllt das

netz / verlassen der wohnung und zugriff, stopp: was

singt der vogel frohe kunde? ein treffen mit freunden,

 

da siegt die (neu)gier, zwinkernd das sprichwort von

aufgeschoben und aufgehoben // drei tage später im

billard-café, small talk bis zur ankunft der liebe, sind

 

drei einer zuviel, das fünfte rad am wagen ein mehr

als faules ei, wir sind auch nach unserer einseitigen

rücknahme der eskalation nicht davon ausgegangen,

 

dass der staatsschutzapparat aufhören würde, nach

militärischen schlägen gegen uns zu lechzen, sunday

bloody sunday in der provinz, in zivil die übermacht:

 

mündungsfeuer und schreie, geraten am kiosk die

zeitungen in den hintergrund, der feste blick auf den

reisenden und dessen sturz ins gleisbett, ein letzter

 

blick in die augen (s)eines mörders, mahnmal gegen

einen staat und seine (tradition der) endlösung – ein

aufgesetzter kopfschuss, und niemand hats gesehen,

 

falsch: niemand wollte es sehen, niemand durfte es

sehen!, zivile zeugen ohne wert, denn: ein pionier

polizist lügt nicht, basta! // da drehen sich worte im

 

mund, rollen köpfe, springt die welt am sonntag über

ihren schatten, der wahrheit die ehre, nur das satz

zeichen das falsche! lügen haben kurze beine, da

 

kriecht so mancher auf dem rumpf durch den sumpf,

sehnen sich einige zu verhältnissen wie '77 zurück,

als unter spd-regie totale nachrichtensperre herrschte

 

und die lügen schon vorher eingeübt waren – der

spitzel durch die presse liquidiert, der lakai in den

schlagzeilen; und unbrauchbar auf dem abstellgleis

 

Aus: "honig im mund – galle im herzen", 68 lyrische Montagen zur Geschichte der RAF, Lyrikedition 2000, 2007

 
Su Alois Immekeppel / Berlin / *1962
 
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Su Alois Immekeppel

29.01.2007

 

DIE PANISCHE KLUFT

zwischen abwärts und aufschaum

grinst rettungsintensiv:

der seuchung Ihrer biomasse mittels body-scan

entgeht nie wieder ein bankgeheimnis,

wenn Sie durchleuchtet, total verwaltet,

renoviert bis zum schmucktatoo unter dem fingernagel

mit unserem mood management prosperieren, indem Sie

die vorstellung, Sie selbst zu sein, epidemisch verlassen! 

Überwachung wird dienstleistung.

 

 

Su Alois Immekeppel

04.10.2006

 

DEN DESOZIALISIERENDEN BRECHMITTELN

folgten wattierte bandagen,

um nachhaltigkeit zu kaschieren –

verblendung hat hochkonjunktur

bedeutungsaas verfeinert die ontologische allerlei-leere

denn aufwertung geht vor.

sinnstiftung mümmelt

zwischen einsamen grashalmen –

dürregewohnt.

sinnklau steigbügelt die laufbahn

ins verfehlte steifwissen.

ihre kadetten lauern im schmerzwinkel der klarheit.
degradiert zur nestbeschmutzerin

vergewissert sich diese

daß es ihrer anwesenheit schade,

anwesend zu sein!

Wir sind beim aufglanz des unheils behilflich.

 

 

Su Alois Immekeppel

29.09.2006

 

AM SAUM DER SPRACHE

ziehen giftdrüsen auf,
der sinn verdreckt.

 

lobbysiert und verdunkelt –

hielten die worte

nicht mehr wort.

 

 

Su Alois Immekeppel

29.09.06

 

STAUSIGNALE

flimmern entlang eines auflackierten scheingefühls.

verletzte widerstände rekeln sich zwischen den erinnerungen,

die sich mit perversionen streiten.

durchatmen in schlingernden wahrheitspötten.

westwind verstärkt den aufprall
einer besonders delikaten luftdichte.

früher waren die dreckschleudern des ostens daran schuld,

heute stößt der tägliche lärmtross seine sauerstoffkäfige

über den laufsteg eines schattenwahns –

du siehst nicht mich aber das modell.

im historischen museum winken diese

mit den händen in den hosentaschen.

das ist auf jeden fall lässiger

und erspart erhebungen.

auch das lächeln der deutschen ist handsome geworden.

alle haben die zukunft schon hinter sich,

relapseflocken verzieren

den biografischen musterteppich und

getrübte vernunft spreizt ihre gier

nach visuellen delierien.

 

 

Su Alois Immekeppel

05.05.2007

 

NICHT WIE SONST, sondern einzig, allein und besonders

standen wir vor der aussicht, die letzten zu sein, als

wollten wir uns bewerben.

 

die pose gerierte zum aufsatz, zur verpatzten

endlosgeburt, die sich niemand in vorschrift
ausmalen wollte.

 

Die blickrichtung schlug auf entflochtene bindungen

ein, die keiner mehr aushielt, ohne dafür bezahlt

zu werden.

 

Den täglichen rissen in den biografien

gefielen die tatoos, kraft derer man sich

in die oberen ränge piercte. manch einer

hing an langfristigen fäden und hielt das für

erstrebenswert.

 

Zwischen mensch und behauptung klaffte ein vorsprung.

den nannten wir bonus gewinn oder rücklage.

wer zeit hatte, übte an der in den abgrund

weisenden zunge kopfsprung, um seine

risikobereitschaft zu trainieren.

Der herzmuskel war in diskretionen

erstarrt, die uns beibrachten, gleichgültig

gift und der anderen gift wie nahrung

zu verzehren. den brechreiz im hirn

brachte das nicht aus der fassung. wir
dachten längst euphemistisch.

 

Den optimaten stand realistisch betrachtet das

wasser zum hals, um die wachstumsprognosen auf-

recht zu halten.

 

gefühlsreste, die
sich nicht stornieren liessen, fingen
plastinierte engel ein, die sich wie barbiepuppen verhielten:

lackiertes geschwätz und partnerstyling.

 

Nur ein alleinstehendes komma ohne vor und danach

mochte auf bleichem grund sich

behaupten: ein geschwungenes zeichen,

dem die verlautbarung nichts mehr bedeutet,

eine zäsur zwischen trostlosen mengen

gebeugter fakten,

als wolle es einen mord anzeigen.

 
Thien Tran / Köln / *1979
 
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Thien Tran

DIE SOZIOLOGEN BEZEICHNEN DIES

ALS LANGWEILE

 

die ganze Zeit, nichts
      sowas wie eine Tastensperre
kalendarisch

schon im voraus festgelegt

die große Revolution

       wird erst am Wochenende meßbar

zeitgleich

mit den Datenströmen

die Sachlage ist vor allen Dingen

       an Einzelphänomenen zu beschreiben

an der eigenen Stimme

aus der Induktion dieser Erregungs-

zustände ließe sich sodann

ein Endbild ableiten

unsere eigentliche Postmoderne

       das Begehren synkopisiert. Begehren

in die Enge getrieben

solange bis auch der letzte Rest an Identität

an Selbstbestimmung

sich im Allgemeinen dieser Nacht 

       auflöst. für einen Historiker ist dies

ein ganz alltäglicher Vorgang.

 

 

Thien Tran

PER VOLKSENTSCHEID

 

Fahne auf Halbmast

       Arbeitslosigkeit steht an

und Langeweile

die vom Regen gezeichneten

       Gesichter der Nachrichtensprecher

wenn man abends heimkommt

und die Raviolis aufwärmt

       man kennt die älteren Menschen

vom Ein- und Aussteigen

in den Bus. aber man selbst muss weiter

die Industriewolken der Industrie

meinetwegen. graue Zahlen

für dieses Quartal. bei den Meldeämtern

gehen wieder die Paßfotos in Druck

       eine langanhaltende

tiefgreifende und nicht zu unterschätzende

Normalität macht sich breit

wobei Normalität und Langeweile

       sich immer wechselseitig bedingen

während die Langeweile steigt.

 
Thomas Steiner / Neu Ulm / *1961
 
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Thomas Steiner

die schafe schenken uns

 

ihre körper. sie fressen fröhlich unser gras

auf unseren wiesen & feldern & deichen

(deiche, jawohl, dort sind sie besonders von nutzen)

& als dank dafür

geben sie uns ihre körper & wir nehmen sie

(die körper) gerne an. das ist die geschichte

der schafe auf der weide.

 

 

Thomas Steiner

spaziergang

(1)

dem waldrand entlang

herbstwind doch sonnig

karawanen von wanderern

(so sagte man früher) &

walkern, hunde

sowieso

familien ließen drachen steigen

 

(2)

der eine drache flog schlecht

waagrecht übers feld knapp

über dem boden, dann

am waldrand stieg er kurz &

fiel in die kronen, wo er

hängen blieb. der junge

weinte, auch jungen

können weinen

 

(3)

später auf dem friedhof

(friedhofsrunde zum ausklang)

unverhofft

der grabstein des ritterkreuzträgers

schneeweiß

schneeweiß gepflegt (& das will gut

gepflegt sein !)

ganz groß drauf geschrieben in gold:

eichen laub zum ritter kreuz

alt ist er geworden, alt.

 

 

Thomas Steiner

nach dem schiffbruch auf den wogen der kapitalströme

 

also: wir hatten (damals) 1 lehrer (1 vorbild also

& uns zur belehrung), der erzählte (jeder klasse, jedes jahr)

er sein pleite für sein leben weil sein lebenstraum gescheitert

war: 1 schafzucht (kein witz, der lehrer [mit seiner {schönen} hochschul

bildung] wollte ganz was andres machen als uns pubertäre

deppen hüten & züchtete, nun, schafe, die süßwolligen, & ging pleite

damit [ja ja!]) 1 schafzucht also hatte er & wurde illiquide (wie es

richtig heißt) & musste darum (doch wieder) tun, was er besser konnte

(als lehrer & vorbild), doch sein geld ist gepfändet (bis zum rest

des lebens, sagte er [jeder klasse, jedes jahr], was ein neuanfang

nach rückwärts war) − & er lachte uns aus.

 

 

Thomas Steiner

oma fiel die treppe runter

 

& es stellt sich die frage:

was machen wir mit ihr?

 

die ökonomie sagt: nichts tun

oder sehe ich das falsch &

die ökonomie (in ihren viel-

fältigen verflechtungen) sagt:

arzt holen. ich bin zu doof

das zu durchschauen.

 

ich bitte um

erklärung & rat. was soll ich tun?

 

 

Thomas Steiner

wenn der lehrer gerade keine lust mehr hat

 

(ich spreche von unserem

lehrer g mit seinen weißwallenden

haaren & weiten hemden der

inzwischen tot ist weil er

damals schon fast 60 war)

erzählte er geschichten

aus seiner jagdfliegerjugend

voller wilder abenteuer.

er wollte

uns ähnlich sein

(er wollte uns ähnlich sein).

damals trugen die schüler wallende haare

& weite hemden.

& tatsächlich:

wir hörten mit großen augen zu.

 
Tobias Falberg / Oberasbach / *1976
Letztes Buch: „Landschaft mit Ufo“, Kurzgeschichten, Ursus Verlag, 2007
(ZURÜCK)

Tobias Falberg

Grundrecht auf Aufteilung

 

Am Feldrand lagen ausdauernde Hecken-

stecklinge und mehrere Kanister

Dornendünger. Die Wiesen teilte man

mit Maschendraht in kubische Elemente.

Geriet ein Nutztier in die Maschenlinie,

wurde es aufgenommen

 

oder halbiert und später eingesammelt

von Veterinärkränen. Um die Fleischhallen

wuchsen rostbraune Stahlnetze Richtung Licht,

der Höhe nach ausgegossen mit schnell

härtendem Beton. Weiter oben

schoss ein Bolzenroboter Holzlatte

neben Holzlatte auf dicke Querbalken.

Selbst ich besaß einen tragbaren Klappzaun,

sehr leicht, eine Aluminiumlegierung, die nicht

viel taugte. Doch es ging ums Prinzip.

 

Deutsche Klavierbauer hatten im Sinne

des Völkerrechts Stacheldrahtbolide entwickelt,

die sich selbsttätig verbreiteten und ausrollten

zu vollwertigen Begrenzungen, Energiesäulen

und Starkstromanschlüsse inklusive:

auch hier Kräne. Für landschaftliche Einblicke

 

stand Panzerglas hoch im Kurs. Die Sicht war

frei geholzt und man hatte die Springminen

und Selbstschussanlagen unaufdringlich getarnt.

Der Gebietsautomat zog zehn Euro ein,

schlürfendes Geräusch, die Kamera surrte,

der Drehverschluss schleuste mich an den Strand,

wo ich zum ersten Mal Berge von Salzwasser sah.

Es juckte mich, ich übersprang die Trennwand

und lief ins Freie. Die Gesetzeslage

war eindeutig. Geräuschlos

 

schloss sich das Gitter.

Da stand ich nun, relativ mutlos.

Manche Insassen kamen zu Lebzeiten zurück,

aber dafür musste man bei jeder Bewegung

solche Dinge wie die Guillotinenfenster

im Hinterkopf behalten.

 
Ulf Großmann / Dresden / *1968
 
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Ulf Großmann

 

sie liest

kriecht vor den Medienikonen zu Kreuz

im Zeitungsleben in zu großen Buchstaben

bis sie selbst das Gras am Rande frisst

sich nackt rülpst Meinungen bildet

als wäre es ein alter Brauch

so verfüttert zu werden

 

er liegt dort

ohne Tür und Klingel lakenweit haben sie ihn gebracht

das ist nicht schlimmer als eine infizierte Startdatei

das auszuhalten in den modernen Fassaden ist so einfach

er fällt friedlich bis zur Allgemeinmeinung hindurch

 

spekuliert

agiert im Korsett so unecht wie möglich

so echt wie nötig dreht sich die Welt

am Ende wird wegberäumt oder am Anfang

bis zum Sozialamt ist es der gleiche Weg

für die immer Gleichen

 

die Vögel haben

Warnblinkanlagen die sich einschalten

beim Anflug auf ihre Plastiknester

und in der Mitte des Baumes zieht sich

ein Eichhörnchen Nüsse aus dem Automaten

unten steht ein gechipter Mensch staunt

im Moosimitat über seine eigene AnOrdnung

 

noch mehr

schreits in alle Ohren & wir drücken

uns in Arbeitstage und Konsumtempel

wir drücken und drücken dabei

ist die Weltwindel schon voll

 
Walter Baco / Wien
Buch u.a.: „System Success – Anleitung zum Untergang“, Satire, edition sisyphos, Köln,  2005
(ZURÜCK)

Walter Baco

 

 

Atmet das Sorgenkraut!                     

Gleitet entlang der Berg und Tal-Textierung!

Ein tragbares Raster-Muster, yeah baby!

Durch jede Öse dringt das Böse

Ein Mu-lattenzaun, cremefarben

Eine buntstift-heile Welt zum Diskont-Tarif

So trällert der Grünschnabel seinen Evergreen

Ein Würfelspiel, mit schweratmig rauchender Langeweile durchsetzt

Ein geistloses Lallen

Ein verschossenes Pulver

Ein Ewig-am-Ziel-vorbei

Ein vom Zentrum abgelenkter, nie abgeflogener Pfeil

Ein Wurfspieß der Germanen; drei Buchstaben

Wir haben ein Waagrecht auf eine ziegen-freundliche Befüßelung

Wir haben die Legende, wo blieb der Dolchstoß?

Wir haben eine Diagonale im Trio

Eine Sandviper im Gepäck - Notration

Eine zischelnde Erkenntnis

Einen Non Plus-Kurti

Einen Sonnenfilter, may be hazardous

Einen Krummschnabel, einen sich biegenden Steg

Die Wurzel-Koketterie

Die Radikalkur, wir haben GROSSRÄUMETAG

Wir haben Klein-Kram und Mini-Cremissimo

Wir haben zweckgebunden, -ungebunden, -los

Wir haben Ausgang

Wir dürfen fliegen, büffeln über den Vokabeln der Freiheit

Wir schmettern uns ins Horn

Trällern einen runter

Bowlen um ein Fruchtgetränk

Flippen um ein Freispiel

Stemmen uns in Schwüngen zum Schnee

Pflügen die kargen Rinnen -

Und johlende Stampeden melken unser Blut

 

 

Walter Baco

 

 

Willkommen

im Kreis

der Theoretisch-Erleuchteten

 

Wir nehmen

euch beim Wort,

beim Kragen

oder sonstwo.

 

Die Armen schuften,

die Reichen kassieren –

eine zeitgemäße Arbeitsteilung.

 

Noch nie richtig hingeschaut

Kaum je hingehört

Nie das wirkliche Leben gespürt,

das reine Sein geschmeckt

am Wesentlichen vorbeigegangen

 

Willkommen!

 
Und auf Wiederlesen!